100 Kilo Herz - Stadt Land Flucht

Bakraufarfita / Broken Silence
VÖ: 07.08.2020
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10

Bordsteinkantengeschichten
Endlich kommt einer der besten Muff-Potter-Songs zu seiner verdienten Ehre: Da haben welche ihre Band 100 Kilo Herz genannt. Außerdem grüßt der Albumtitel in Richtung Rocco und Rico, die vermutlich immer noch mitsamt ihrer tot überm Zaun hängenden Zukunft an der Bushaltestelle von Muff Potters "Niemand will den Hund begraben" Stadt-Land-Flucht spielen. Und obendrauf heißt ein Song "...und aus den Boxen ...But Alive". Übrigens: Zum Releasekonzert ist ein gewisser Thorsten Nagelschmidt eingeladen. Weißte Bescheid. Das Punkrockherz hätte Grund zu jubilieren und könnte großzügig die Sympathiepunkte aus vollen Händen verteilen, bevor die erste Note überhaupt gespielt ist.
Aber es ist nun mal so: Für die richtigen Referenzen klatschen nun mal nicht alle Applaus. Powerchord-loving Punkrock mit ordentlich motivierter Bläsersektion kennt man nicht erst seit Feine Sahne Fischfilet, und tendenziell abgefuckte Geschichten von den löchrigeren Stellen des so genannten sozialen Netzes hat auch schon so mancher erzählt. Damit muss sich das zweite Album der Leipziger nun herumschlagen. Und es ist außerdem auch so: Es macht das nicht nur gut, sondern schafft es sogar, dass etwaiges Epigonentum gar nicht erst zum Thema wird. 100 Kilo Herz versuchen nämlich zu keiner Zeit, die Welt aus den Angeln zu heben. Sie schütteln ganz einfach vier Akkorde aus dem Ärmel und leiten nach "Den besorgten Bürger / Könnt ihr auch ganz gut verstehen / Und geht ins Kino um den neuen Til-Schweiger-Film zu sehen" per Kotzlaut gen Refrain über. Wo dann den treffsicher enttarnten, alltäglichen wie mannigfaltigen Unsympathen der Schierlingsbecher serviert wird.
Überhaupt ist die große Stärke von "Stadt Land Flucht", die Dinge musikalisch wie textlich auf den Punkt zu bringen. Die Band verkünstelt sich nicht unnötig und vollbringt dabei so manch besondere Momente. Wenn "Drei vor fünf vor zwölf" zu fröhlicher Gitarrenarbeit bitterböse den Gesellschaftsspiegel reicht, wird jedes Wort zum Roundhouse-Kick in die Magengrube. "Kein deutscher Junge / Singt noch ein böses Lied / Und kein Sohn aus Mannheim / Ist ein Antisemit" heißt es da. Oder "Und kein Neonazi / Der im Landtag Geld verdient". Und vor den Boxen erdrückt einen die Einsicht, dass man viel zu oft die Klappe hält. Puh. Weniger politisch als vielmehr persönlich wird es "An Ampeln", wo simpel wie gnadenlos erzählt wird, wie sich zwei Menschen finden und wieder verlieren. Komplett ohne jede Ironie, ohne Doppeldeutigkeit, ohne Distanz, nur mit entwaffnenden, schmerzhaft direkten Worten. Tut weh, ehrlich.
Da nimmt man zwischenzeitlich Tröstliches wie die Uffda-Nummer "Und aus den Boxen ...But Alive", das übrigens direkt aus der Trinkeranstalt von "Weniger als 5 Sekunden" erzählen könnte, gerne entgegen. Schmerzhaft wird es noch oft genug hier. Vor allem im Closer, der mit Akustikgitarre und den Worten "Wach schnell auf / Die Anderen haben gewonnen" beginnt und an anrührenden Einzelschicksalen vorbei durch ein erschreckenderweise denkbares Endzeit-Szenario nach Den Haag flüchtet. "Du weißt genau / Ich wollte nie kämpfen / Doch wenn es brennt / Passen wir auf uns auf". Es sind die letzten Worte von "Stadt Land Flucht". Ein Album, das man vorschnell mit elitärer Missbiligung als nicht zu doof und nicht zu smart abtun könnte. Oder als mit das Beste, was in Sachen Punk mit Bläsern in letzter Zeit so passiert ist. Denn 100 Kilo Herz schaffen, was nur wenigen vorbehalten ist: Sie sind wichtig.
Highlights
- Drei vor fünf vor zwölf
- An Ampeln
- Wenn es brennt
Tracklist
- Drei Jahre ausgebrannt
- Tresenfrist
- Drei vor fünf vor zwölf
- An Ampeln
- Das ist ein Ende
- Nur für eine Nacht
- Der Späti an der Klinik
- ...und aus den Boxen ...But Alive
- Sowas wie ein Testament
- Scheren fressen
- Wenn es brennt
Gesamtspielzeit: 38:39 min.
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2020-07-31 21:40:18 Uhr - Newsbeitrag
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Referenzen
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