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Illuminati Hotties - Free I. H.: This is not the one you've been waiting for

Illuminati Hotties- Free I. H.: This is not the one you've been waiting for

Self-released
VÖ: 17.07.2020

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 9/10

Mittelfinger hoch

"Tenderpunk". So das selbstgewählte Label, das Sarah Tudzin ihrem Projekt Illuminati Hotties einst aufdrückte und das sie nun wohl aktualisieren müsste. Für Zärtlichkeiten hat die Kalifornierin im Jahr 2020 nicht mehr viel übrig. Von den öffentlich gewordenen ominösen Geschäftspraktiken ihres Ex-Labels Tiny Engines selbst betroffen, traf Tudzin die Entscheidung, sich aus dem laufenden Vertrag herauszukaufen. Als vereinbarte Finanzierung soll "Free I. H." herhalten, was dessen irritierenden Untertitel erklärt: "This is not the one you've been waiting for." Der Nachfolger zu "Kill yr frenemies" ist also nicht das eigentlich geplante zweite Album, sondern in erster Linie ein Ventil. In Form eines stilistisch wilden Bewusstseinsstroms verschafft sich die von der Musikindustrie zerräderte Künstlerin Luft. Losgelöst von Erwartungen und Song-Konventionen reichen 23 ungeschliffene wie ungefilterte Minuten aus, um die ganze negative Emotionspartitur abzuspielen. Darüber, dass ihre Label-Querelen in der akuten Weltkrise banal erscheinen mögen, scheint sich Tudzin bewusst zu sein: "While the world burns, why would you care about a fucking record?" Doch gerade aktuell dürfte diese Teilhabe an ihrer persönlichen Katharsis auf so manche weit geöffneten Arme stoßen.

"Will I get cancelled if I wrote a song called, 'If you were a man you'd be so cancelled.'" Ehe man den Titel des Openers dreimal laut ausgesprochen hat, ist der Song schon vorbei. Mit krachender Gitarre, polternden Drums und angedeutetem Screamo-Ausbruch etabliert Tudzin den angepissten Ton der Platte. Songs wie "Free ppls", "WATTBL" und das besonders gallige "Superiority complex (Big noise)" bilden ein Skelett punkiger Garagenrocker, die beide Mittelfinger aus dem Fenster strecken und mindestens 20 Jahre am musikalischen Zeitgeist vorbei rasen. Doch "Free I. H." kanalisiert mehr als Wut und schießt nicht ausschließlich gegen andere, es geht auch um die der Situation entwachsenen Selbstzweifel. Das gefühlt nur aus seiner grandiosen Hook bestehende "Freequent letdown" klingt oberflächlich wie ein sonniger Indie-Hit, transportiert aber alles andere als Unbeschwertheit: "I'm always letting everyone down / I'm always letting everyone know I'm down." Es ist ein Jammer, dass eine Frau wie Tudzin, die schon kleinere Erfolge verbuchen konnte und ihre Musik zumeist in Eigenregie aufnimmt, so von höheren Mächten in ihrem Selbstbewusstsein geschwächt wurde. Zum Glück lässt sie sich nicht unterkriegen und beweist vor allem im Herzstück "Content//Bedtime" Chuzpe: Erst zelebriert sie eine Minute astreinen Noise, dann bricht Art-Punk im Geist einer Cate Le Bon durch, um schließlich in ein obskures Cheerleader-Finale überzuleiten. Ein irrer, aber auch irre spaßiger Track.

Genau dieser Mut zum Experiment zeichnet das Album aus und lässt sich als positiver Nebeneffekt seines Entstehungskontextes begreifen. Vor allem "Melatonezone" ragt heraus. Tropische Strandparty in den Strophen, explosiver College-Rock im Refrain und dazu eine der giftigsten Abrechnungen mit dem Markt: "Sticking a toothpick into my thigh like / Kidding myself that I'm still alive, I'm / Taking a bite of commercial pie." Die Shoegaze-artige Traumspirale von "Free dumb" stellt indes einen sanften Ruhepol dar und deutet möglicherweise die Erfahrungen an, die Tudzin als Mixerin auf Slowdives selbstbetiteltem Comeback-Meisterwerk sammeln konnte. An anderer Stelle pocht "Free4all" wie eine elektronische Migräne, während "K - HOT AM 818" einen Kommerzradio-Bumper parodiert. Keine Frage, so rund wie das Debüt wirkt "Free I. H." bei weitem nicht, doch entwickelt das Album gerade in der Zerfahrenheit seinen Reiz und kommt erfrischend freigeistig rüber – zumal immer wieder herrliche Melodien zwischen den Fragmenten aufblitzen wie im aufmunternden Pop-Punk von "B yr own b". Schließlich findet Tudzin trotz aller Frustration einen versöhnlichen Abschluss, wenn sie sich ihren "Reasons 2 live" zuwendet. Es ist eine Würdigung geliebter Menschen, vorgetragen als folkiger Tagebucheintrag mit entwaffnend kindlicher Naivität. Vielleicht haben Illuminati Hotties nach all den Entbehrungen doch noch etwas Zärtlichkeit übrig.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights

  • Freequent letdown
  • Melatonezone
  • Content//Bedtime
  • B yr own b

Tracklist

  1. Will I get cancelled if I wrote a song called, "If you were a man you'd be so cancelled"
  2. Free ppls
  3. Freequent letdown
  4. Melatonezone
  5. WATTBL
  6. Free dumb
  7. Content//Bedtime
  8. Free4all
  9. B yr own b
  10. K - HOT AM 818
  11. Superiority complex (Big noise)
  12. Reasons 2 live

Gesamtspielzeit: 23:22 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

humbert humbert

Postings: 2406

Registriert seit 13.06.2013

2021-10-04 19:28:27 Uhr
Danke für deine Einschätzung. Dann werde ich da mal reinhören.

dogs on tape

Postings: 189

Registriert seit 14.06.2013

2021-10-04 19:00:16 Uhr
Spontan würde ich sagen es ist abwechslungsreicher als erwartet, nimmt auch mal den Fuß vom Gas.

humbert humbert

Postings: 2406

Registriert seit 13.06.2013

2021-10-04 14:55:25 Uhr
Hat jemand das Album Let Me Do One More von Illuminati Hotties gehört? Ich finde ja die Singles alle ziemlich nett.

maxlivno

Postings: 2740

Registriert seit 25.05.2017

2020-08-07 18:13:13 Uhr
Sehr schön, dass das hier rezensiert wurde. Rezi deckt sich in etwa mit meinem Einschätzung. Spaßiges, kurzweiliges ding. Wurde eine 7.5 geben

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26212

Registriert seit 08.01.2012

2020-07-31 21:40:57 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

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