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Depeche Mode - Spirits in the forest

Depeche Mode- Spirits in the forest

Columbia / Sony
VÖ: 26.06.2020

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

The evolution will be televised

Den Versuch um Objektivität starte ich erst gar nicht. Nicht bei dieser Band, nicht bei dieser Veröffentlichung. Eingefleischte Devotees schenken dem Grad meines Fantums vermutlich nur ein müdes Lächeln: Ich weiß nicht, wann Martin L. Gore das letzte Mal "Pimpf" auf dem Klo gesummt und welchen Kajal er dabei getragen hat und führe auch keine Statistiken über die Erwähnung der Band in britischen Musikzeitschriften zwischen 1981 und 1985. Dennoch gehören Depeche Mode bis heute zu den wichtigsten Bands in meinem Leben. Und das Konzert, das den Schaurahmen dieser Veröffentlichung darstellt, verdient einen Ehrenplatz in selbigem, weil es das erste ist, dem ich beiwohnen durfte, aus dem ein offizieller Release hervorgeht.

Als Depeche Mode 2017 mit "Spirit" ihrer Diskografie das 14. und sehr gute Studioalbum beifügten, waren die kommerziellen Begleitstrukturen noch nicht vollends abzusehen. Viel business as usual. Wieder waren vier Jahre vergangen seit dem letzten Album, wieder wurde auf einer extra einberufenen Pressekonferenz eine ausgedehnte Tour angekündigt. Wieder hatte Anton Corbijn für das Artwork die Versalien dezent Mode-ifiziert. Wieder würde es einen Live-Mitschnitt geben. "Where's the revolution" in this? Fällt vorerst aus. Über die nächsten Monate erlebten bei 130 Konzerten über drei Millionen Fans die Auftritte der gebürtigen Basildoner. Der "Spirit"-Anteil schwand zusehends – das tolle "Scum" etwa schaffte es erst gar nicht zur Bühnenreife. Übrig blieb ein Beinahe-Best-of-Set, übrig blieb Berlin als letzter Tourstop und eine Band, die sich – ebenso wie die Fans, sorry, liebe Schweden – seit dem Auftakt in Stockholm sukzessive steigerte, auch wenn die Gesichtszüge von Andrew Fletcher diese Geschichte nicht erzählen.

Über die Beziehung von Depeche Mode zu ihren Fans und zur deutschen Hauptstadt im Speziellen gibt es ganze Bücher. Passionslevel: 11/10. Also wundert es nicht, dass nach "Live in Berlin" der Fokus nun wieder hierzulande liegt. Die finalen Auftritte der Mammut-Tour am 23. und 25. Juli 2018 an der Waldbühne sind Ausgangspunkt für das vorliegende Konzert in Bild (Disc2) und Ton (Disc3 und Disc4) sowie den beigefügten Film "Spirits in the forest" (Disc1), der im November 2019 weltweit in den Kinos lief und so 2017 zur Album-Präsentation nicht zu erwarten war. Evolution statt Revolution. Anton Corbijn begleitet darin sechs Fans mit höchst unterschiedlichen Biographien, vereint in der Liebe zur Musik von Depeche Mode. Das Tourfinale spielt eher eine untergeordnete Rolle. Ein absoluter Mehrwert für diese Veröffentlichung und unterhaltsam obendrein. Weil man einen Typ wie Cristian aus Rumänien schnell ins Herz schließt: Für ein Fotoprojekt schickte er seinen Bruder tagelang über teils schneebedeckte Berge, um das Königs-Motiv von Dave Gahan aus dem Video zu "Enjoy the silence" in eigener Interpretation nachzustellen. Carine aus Frankreich verlor im Alter von 25 Jahren nach einem Autounfall ihr Gedächtnis, musste selbst ihre Muttersprache neu lernen. Einzig Depeche Mode kam ihr vertraut vor, als ein Song des Trios im Fernsehen hörte. Alle Protagonisten des Streifens treffen sich schließlich an der Waldbühne in Berlin – und werden nicht enttäuscht.

Es ist bullenheiß. Trotzdem einigen sich natürlich etwa 70 Prozent der Besucherinnen und Besucher unabgesprochen auf ein schwarzes Outfit. Später wird sich die Nacht visuell anschließen. Vermutlich aus rechtlichen Gründen verzichten BluRay- und Live-Mitschnitt auf den Intro-Vorbau, "Revolution" von den Beatles, und beginnen mit den marschierenden Takten von "Going backwards". Eine gute Wahl, gehört er doch zu den besten Songs der vergangenen Band-Dekade. Falls es noch Stimmungsaufheller benötigte: Depeche Mode liefern umgehend mit "It's no good" und "Useless" zwei Hochkaräter der Ultra-Phase, beide verbunden durch "A pain that I'm used to" – natürlich im inzwischen längst etablierten Jacques-Lu-Cont-Remix.

Es ist nicht so, als würde man an diesem Abend in Berlin im Menschen-Rudel aus Radio-Hit-Connaisseuren, Jugendlichen der Achtzigerjahre, Bootleg-Besitzern und eingefleischten Devotees völlig überrascht. Spielt Martin Gore wieder zwei Balladen am Stück? Ja, macht er – und es ist hervorragend. "The things you said" erlebe ich live erstmals und der Mann aus Santa Barbara setzt es prima um, dazu der kraftvolle Vortrag von "Insight". Dreht Dave Gahan wieder Pirouetten und packt sich selbst an den Allerwertesten? Ja, aber an seiner Präsenz und seinem agilen wie überdrehten Entertainer-Wirken ändert das halt ebensowenig. Man weiß, dass Sitzplätze zwar auf der Eintrittskarte vermerkt sind, jedoch nicht beansprucht werden. Kurzum: Wir kreisen an diesem Abend um bekannte Parameter auf so hohem Niveau in einem so stimmigen Gesamtbild, dass es eine Wonne ist. Die starke Produktion des Audiomitschnitts wird dem voll gerecht.

Eine sengend-sägende E-Gitarre durchfährt herrlich "Where's the revolution", auch "Cover me" funktioniert, die Messlatte der Band-Meilensteine übertrumpfen die "Spirit"-Songs jedoch nicht. Intros wie das zu "Everything counts" sind der Grund, warum das 12inch-Format in den Achtzigern so viel Sinn machte und die Synthie-Töne zu Beginn von "Stripped" sollten ohnehin in Museen ausgestellt werden als Symbol für effizienten Minimalismus. "Enjoy the silence"? Vergessen wir die skurrilen, in rote und rosafarbene Filter getauchten Tiere auf der Leinwand und konzentrieren uns auf den besten Synthpop-Song aller Zeiten, um anschließend bei "Never let me down again" dem okkulten Massenwinken zu frönen: Auch das ist seit über 30 Jahren gelernt. Und weil es das vorerst letzte Konzert ist, spendieren Depeche Mode mit "Just can't get enough" einen zweite Zugabe. Für mich eigentlich totgespielt, tanzen und singen wir an diesem warmen Sommertag, selbst als Christian Eigners Kickdrum zum xten Fan-only-Encore bittet. Manchmal ist die Welt nur ein Wohnzimmer im Wald.

(Stephan Müller)

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Highlights

  • World in my eyes
  • Insight
  • Everything counts
  • Enjoy the silence
  • Never let me down again
  • Walking in my shoes

Tracklist

  • CD 1
    1. Spirits in the forest
  • CD 2
    1. Live spirits
  • CD 3
    1. Intro
    2. Going backwards
    3. It's no good
    4. A pain that I'm used to
    5. Useless
    6. Precious
    7. World in my eyes
    8. Cover me
    9. The things you said
    10. Insight
    11. Poison heart
  • CD 4
    1. Where's the revolution
    2. Everything counts
    3. Stripped
    4. Enjoy the silence
    5. Never let me down again
    6. I want you now
    7. Heroes
    8. Walking in my shoes
    9. Personal Jesus
    10. Just can't get enough

Gesamtspielzeit: 324:00 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Fenogas

Postings: 22

Registriert seit 25.10.2015

2020-07-02 12:04:55 Uhr
Dass Gahan nicht mehr fähig ist ein sauberes "s" am Wortende auszusprechen, stört mich ehrlich gesagt doch sehr.

Wordsch like violensch.

Rainer

Postings: 748

Registriert seit 22.03.2020

2020-07-01 20:56:19 Uhr
Das Publikum nervt wie Sau. Fand's unhörbar.

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26212

Registriert seit 08.01.2012

2020-07-01 19:35:15 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

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