Hayley Williams - Petals for armor
Atlantic / Warner
VÖ: 08.05.2020
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Florale Katharsis
Paramore sind unterbewertet. So. Da habt ihr’s, ihr Indie-Nasen. Zugegeben, der geglättete Teenage-Angst-Gestus ihres früheren Werks erscheint im Nachgang schon ein bisschen peinlich. Doch mit dem – von Kollege Baschek zu Unrecht verrissenen – selbstbetiteltem Album samt Über-Hits wie "Ain't it funny" wuchsen sie zu einer geschmackvollen, gereiften Pop-Band. Das Privatleben von Frontfrau Hayley Williams trieb aber leider auch ein paar unschönere Blüten. Wie sie selbst offen kommuniziert, litt sie in der letzten Dekade unter einer Scheidung, der Zersplitterung ihrer als Familie wahrgenommenen Band, sowie einer Depression. Ihr erstes Solo-Album beweist also nicht nur, dass die Amerikanerin musikalisch mehr draufhat als mitreißenden Power-Pop – es versteht sich nicht zuletzt als ihre eigene Art der Therapie. Williams versteckt ihre Narben nicht, sondern kehrt sie nach außen, definiert die Verletzlichkeit nicht als Schwäche, sondern als persönlichkeitsstärkendes Schutzkleid. "Petals for armor", eben.
"Rage is a quiet thing." Die markante erste Zeile von "Simmer" pointiert Williams' hochemotionalen, aber subtilen Ansatz, der sich auch in der Musik niederschlägt. Die brodelnde Atmosphäre erinnert an die elektronisch-organischen Symbiosen von Radiohead oder Warpaint, der offene Refrain fügt eine eigene Note hinzu. Das auf der ganzen Platte grandiose Bassspiel von Joey Howard verziert auch den mitternachtsschwarzen Shuffle-Folk von "Leave it alone". Hier zieht sich die 31-Jährige noch weiter zurück und hinterlässt einen schwer zu schluckenden Brocken der Trauerbewältigung: "Now that I finally wanna live / The ones I love are dyin'." Auch das von Boygenius unterstützte "Roses/Lotus/Violet/Iris" setzt eine Schnur an die Kehle, die selbst die ungewohnt poetische Sprache nicht lockern kann. "My friend" beschwört zwar Hoffnung durch Empathie und Zusammenhalt, hat den Ausgang aus seiner isolierten Ecke aber noch lange nicht gefunden.
Doch "Petals for armor" gedeiht keineswegs nur im Schatten. "Pretty cool I'm still alive", feiert Williams im befreiten Ohrwurm "Dead horse" mit der untergehenden Karibiksonne im Nacken. Beim konstant neben der Spur fahrenden "Cinnamon" erwartet man die ganze Zeit den plötzlichen Einschnitt von St. Vincents Sechssaitiger. "Creepin'" verwandelt einen emotionalen Blutsauger in einen harmlosen Trash-Film-Vampir, während "Over yet" seine überquellende Energie in einem bunten Schwarm von Synths und Gitarren kanalisiert. Die Protagonistin von "Sudden desire" versucht, sich ihrem körperlichen Begehren zu entziehen, bis es sie doch überkommt – formal perfekt abgebildet durch die plötzlich hereinbrechende, mehr geschriene als gesungene Hook. Williams kanns immer noch tolle Popsongs schreiben, sogar bessere und vor allem vielseitigere als je zuvor. Sie scheint ihrem eigenen Kopf und Herzen voll zu vertrauen und ihre Selbstsicherheit durchströmt jede einzelne der 55 Minuten.
Der Rock- und New-Wave-Ästhetik von Paramore entsagt sie sich komplett zugunsten eines grazileren Pop-Entwurfs mit Einflüssen aus R'n'B, Funk und Achtziger-Radio. Gerade im letzten Drittel des Albums wird die Stimmung mit Songs wie "Why we ever", "Pure love" oder der Bossa-Nova-Verbeugung "Taken" immer leichter und luftiger. Die emotionale Tiefe der vorigen Highlights bleibt unerreicht, doch noch mehr Schläge in die Magengrube hätte man auch kaum durchgestanden. Ausfälle gibt es eh nicht, selbst der geschäftig klackernde Disco-Pumper "Sugar on the rim" funktioniert auf wundersame Weise. Zum Schluss darf das groovende "Watch me while I bloom" die Blumen-Metaphorik der Platte ein letztes Mal auskosten und "Crystal clear" ein nachdrückliches Mantra formulieren: "I won't give in to the fear." Williams hat sich also nicht nur künstlerisch emanzipiert und der Welt ein starkes Solo-Debüt geschenkt, sondern hoffentlich auch ein paar wichtige Schritte zur persönlichen Heilung getan. Und vielleicht sogar ein paar Nasen dazu gebracht, ihre Vorurteile über gewisse, gar nicht mal so beschissene Poprock-Bands zu überdenken.
Highlights
- Simmer
- Leave it alone
- Over yet
- Roses/Lotus/Violet/Iris
Tracklist
- CD 1
- Simmer
- Leave it alone
- Cinnamon
- Creepin'
- Sudden desire
- CD 2
- Dead horse
- My friend
- Over yet
- Roses/Lotus/Violet/Iris
- Why we ever
- CD 3
- Pure love
- Taken
- Sugar on the rim
- Watch me while I bloom
- Crystal clear
Gesamtspielzeit: 55:45 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Kojiro Postings: 4192 Registriert seit 26.12.2018 |
2023-08-06 05:53:39 Uhr
"Pure Love" immer noch n Knaller. |
El arco Postings: 113 Registriert seit 02.12.2019 |
2021-02-05 08:42:22 Uhr
Heute kam ein neues Album. Ging ja flott |
Affengitarre User und News-Scout Postings: 11094 Registriert seit 23.07.2014 |
2020-10-01 16:15:46 Uhr
Ja, es fühlt sich dann doch leider nach Songsammlung als nach einem durchkonzipiertem Album an. Genug tolle Songs sind aber definitiv drauf und denke, dass sowas beim Nachfolger ganz anders aussehen könnte. |
dingbaat Postings: 6 Registriert seit 01.10.2020 |
2020-10-01 16:11:44 Uhr
... "Why We Ever" im Gehörgang eingenistet. |
dingbaat Postings: 6 Registriert seit 01.10.2020 |
2020-10-01 16:08:24 Uhr
Ich finde viele der Songs auch toll, es fällt mir aber schwer das Album an einen Stück zu hören. Neben den bereits genannten Songs hat sich bei mir vor allem |
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Referenzen
Warpaint; Christine And The Queens; Haim; Lorde; Tori Amos; Bat For Lashes; Sharon Van Etten; St. Vincent; Dirty Projectors; Mitski; Björk; Florence & The Machine; Anna Calvi; Eliza Shaddad; Radiohead; Madonna; Halsey; Sky Ferreira; Banks; Lykke Li; Solange; SZA; Phoebe Bridgers; Julien Baker; Joni Mitchell; Feist; Wilco; Mount Eerie; Moloko; Tegan And Sara; Grouplove; Fiona Apple; Lana Del Rey; Paramore
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