Philip Bradatsch - Jesus von Haidhausen

Trikont / Indigo
VÖ: 20.03.2020
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Ja und nein zur Liebe
Aus München kommt der Erlöser. Es wird mal wieder Zeit für einen neuen Rio Reiser, einen neuen Udo Lindenberg. Philip Bradatsch hält sein musikalisches Spektrum auf "Jesus von Haidhausen" überschaubar. Er geht den Weg der großen Amerikaner, fabuliert dylanesk vor sich hin und wandert auf den Straßen des Boss. Was dabei ins Schwarze trifft neben der akustischen Lakonie, sind Texte und Bestandsaufnahmen, die ohne Retusche klar und deutlich im Zerrissenen eines Allerweltmenschen umher wandeln. Dafür braucht es Zeit zum Entwickeln, Bradatschs Folk-Rock schlägt Brücken jenseits der Fünf-Minuten-Marke. Man wurschtelt sich als Hörer rein in Geschichten, die bemerkenswert, aber eben nicht unrealistisch sind.
Das Unwohlsein in "Alte Gebäude" schleppt sich zu kernigem Gitarrenspiel voran, der "Glasfaser-Bundesadler" überfliegt ein Land, dessen Vergangenheit mit bedrohlicher Fratze an der Zukunft nagt. Dabei fällt hier eine Nüchternheit auf, die furztrocken in den Blick nimmt, was Nachrichtensendungen nicht auszudrücken vermögen. Aber auch im Zwischenmenschlichen gibt es unangenehme Brüche, und ein Tanz mit den Vergeblichkeiten, "(Ich weiß wirklich überhaupt nicht) Was Du überhaupt noch von mir willst", suhlt sich im schnoddrigen Holzfällerhemden-Rock, "die etablierten Menschen lassen Dich nicht an ihren Zigarettenspitzen ziehn", alles Abbruch, alles Konkurs, abwenden bitte. Auch der Country-Blues der "Chantal Kiesinger" zeigt keine Lösungen auf, bilanziert jedoch liebevoll eine letztlich vergebliche Liebelei, die zu Pedal-Steel und Hammond-Orgel zumindest die Schönheit des Versuchs umhegt, dennoch: "Erzähl mir nichts von Deiner Liebe."
Doch den arschcoolen Nihilisten hält Brabatsch nicht durch. Im abschließenden "Rundfunkempfänger" platziert er mit aller Sehnsucht und Verletzlichkeit die Frage, die alles zusammenhält, "wo will Deine Liebe hin?". Davor jedoch gibt es genug erzählerisches Futter, welches durch Distanz einen scharfen Blick gewährleistet. Der Kampf mit sich selbst in "Kriege" zeigt Wunden und Versehrtheiten, die aus dem Alltag ein Schlachtfeld machen. Doch das, was davon bei der Umwelt ankommt, entlockt der Bäckerin im Café nur ein mitleidiges Lächeln. Der Titelsong mit einer schillernden E-Gitarre changiert zwischen aufzählendem Erzählfluss und brodelnder Eruption. Und genau in den Verbindungsstücken dieser unterschiedlichen Herangehensweisen, diesem Abwägen zwischen gesellschaftlichem Protokoll und eigener Gefühlswelt, fängt "Jesus von Haidhausen" an zu funkeln und zu glänzen. Ein nostalgischer Country-Flow wie in "Flüsse" erhält dadurch ein Maß an Authentizität, welches sogar möglich macht, dass Bradatsch vom Mississippi singt und der Hörer trotzdem im gesellschaftlichen Hier und Jetzt bleibt.
Die Songs auf Bradatschs erstem deutschsprachigem Album sind durchaus üppig und expansiv, groß angelegte Epen, die aber in Gestus und Umsetzung bescheiden bleiben. "Meine Liebste hat einen Bleistift und einen Notizblock / Voller leiser Zuversicht." So einfach ist das, im Kleinen wächst das Große, solange die Quelle Aufrichtigkeit ist. Und so wird Philip Bradatsch zu einem Spiegel, der das Unangenehme aufzeigt, aber in jedem zurückgeworfenen Bild bereits das Schöne und Echte widergibt, welches der Betrachter vielleicht erst noch entdecken muss.
Highlights
- Alte Gebäude
- Chantal Kiesinger
- Rundfunkempfänger
Tracklist
- Alte Gebäude
- (Ich weiß wirklich überhaupt nicht) Was Du überhaupt noch von mir willst
- Chantal Kiesinger
- Kriege
- Jesus von Haidhausen
- Flüsse
- Meine Liebste
- Rundfunkempfänger
- Rundfunkempfänger Radio-Edit
Gesamtspielzeit: 45:48 min.
Album/Rezension im Forum kommentieren
Teile uns Deine E-Mail-Adresse mit, damit wir Dich über neue Posts in diesem Thread benachrichtigen können.
(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
---|---|
Kalle Postings: 471 Registriert seit 12.07.2019 |
2024-10-08 22:01:44 Uhr
Ja sehr schön. Wobei ich den Nachfolger noch süffiger finde. |
dryeye Postings: 206 Registriert seit 28.09.2018 |
2024-10-08 20:52:13 Uhr
sehe das ebenso...flüsse, kriege, alte gebäude und rundfunkempfänger...alles völlig zeitlose und empfehlenswerte deutsche mucke (-; |
Hier stand Ihre Werbung Postings: 2219 Registriert seit 25.09.2014 |
2024-10-08 20:40:20 Uhr
Absolut. Ich war ja damals einer der Hand voll Leuten, hatte das Album aber auch wieder etwas vergessen.Heute mal wieder in die Playlist schmeißen. |
Arne L. Postings: 1817 Registriert seit 27.09.2021 |
2024-10-08 14:49:49 Uhr
Das tauchte gerade beim Durchstöbern meiner 2020er-Playlist auf und ist immer noch super, hat aber wohl echt nur eine Handvoll Leute interessiert. Sehr schade, weil super sympathisch. |
Perfect Day Postings: 745 Registriert seit 18.01.2014 |
2020-12-28 07:56:54 Uhr
Läuft bei mir alle paar Wochen mal durch und weiß zu gefallen. "Alte Gebäude" verfolgte mich im Sommer als Ohrwurm, obwohl ich keinerlei Text im Kopf hatte... Der Mann scheint also was richtig gemacht zu haben. |
Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.
Referenzen
Rio Reiser; Udo Lindenberg; Die Höchste Eisenbahn; Niels Frevert; Gisbert Zu Knyphausen; Tomte; Erdmöbel; Kettcar; ClickClickDecker; Herrenmagazin; Enno Bunger; Moritz Krämer; Stoppok; Hannes Wader; Funny Van Dannen; Element Of Crime; Rainald Grebe; Selig; Klaus Lage; BAP; Die Sterne; Blumfeld; Ton Steine Scherben; Voodoo Jürgens; Pohlmann; Madsen; Clueso; Fury In The Slaughterhouse; Olli Schulz; Kapelle Petra; Thees Uhlmann; Spaceman Spiff
Bestellen bei Amazon
Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv
Threads im Plattentests.de-Forum
- Philip Bradatsch - Jesus von Haidhausen (25 Beiträge / Letzter am 08.10.2024 - 22:01 Uhr)
- Philip Bradatsch - Philip Bradatsch (3 Beiträge / Letzter am 26.04.2023 - 21:04 Uhr)
- Philip Bradatsch - Wir brauchen Räume (2 Beiträge / Letzter am 28.02.2022 - 18:19 Uhr)
- Philip Bradatsch - Die Bar zur guten Hoffnung (19 Beiträge / Letzter am 09.01.2022 - 12:30 Uhr)