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Toundra - Das Cabinet des Dr. Caligari

Toundra- Das Cabinet des Dr. Caligari

Inside Out / Sony
VÖ: 28.02.2020

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Schall und Wahn

100 Jahre alt zu werden, das gelingt nur den wenigsten. Aber es ist ein vorstellbares Alter. Nicht biblisch, sondern allzu menschlich. Und doch kann in dieser Zeitspanne verdammt viel passieren. Mehr als in ein normales Menschenleben passt. Vor 100 Jahren, im Jahr 1920, erschien ein Film, der schon damals wirkte, als sei er aus der Zeit gefallen. "Das Cabinet des Dr. Caligari" des deutschen Regisseurs Robert Wiene vereinte Ideen des Expressionismus mit einer Bildsprache, die weit über das hinaus ging, was man damals gewohnt war. Türen wurden aufgestoßen, neue Wege sichtbar. Wege, die bis in die Gegenwart führen. Der Stummfilmklassiker ist es auch heute noch wert, gesehen zu werden. Noch immer beeindruckt er mit seiner grotesken Optik und düsteren Geschichte. Und ja, auch als zeitgeschichtliches Dokument besitzt er unschätzbaren Wert, ermöglicht er doch den Blick in eine Zwischenzeit, die eigentlich gar keine war. Der Krieg machte vielleicht Pause, aber war noch nicht vorbei.

Die spanische Post-Rock-Band Toundra hat sich zum Jubiläum des filmischen Meilensteins daran versucht, dem Werk einen neuen Soundtrack zu spendieren. Eine bei genauerer Betrachtung absolut nachvollziehbare Kombination: Bis auf einige experimentelle Projekte kam die Musik Toundras bisher immer ohne Gesang aus, was ideal zu einem Stummfilm passt. Worte würden nur ablenken. Freilich stellt die musikalische Begleitung eines so verqueren Films eine große Herausforderung dar. Folgerichtig verzichten die Musiker auf sattsam bekannte Breitseiten und verlassen sich auf ihr Gespür für die leisen Töne. Die improvisatorischen Wurzeln sind den sechs Tracks, die sich exakt an den Filmkapiteln orientieren, anzumerken. Motive stehen teils minutenlang im Raum, ehe sie behutsam verdichtet und variiert werden.

Im Vergleich zu regulären Alben der Band nehmen Synthesizer eine wichtigere Position im Klangbild ein. Ein Wabern hier, ein Summen da, dazwischen ertönen gerne auch mal spärliche Klavierakkorde. Das wichtigste Instrument bleibt allerdings die E-Gitarre. So darf sie nicht nur häufig per Arpeggio das Gerüst bereitstellen, sie übernimmt auch meist die Lead-Rolle. Toundra verlassen sich hierbei ganz auf ihre Stärken: Simple, fast minimalistisch anmutende Sequenzen ohne störendes Gefrickel. Dramatischere Momente gibt es selbstverständlich trotzdem, vor allem "III. Akt" und "IV. Akt" steigern sich auf wundervolle Weise. Doch der richtig große Knall, der kommt erst gegen Ende. Dreizehn Minuten verharrt "V. Akt" in einer Art Wachtraum, bevor urplötzlich die Hölle losbricht. Just, als im Film der Wahnsinn den Direktor einhüllt, gibt es auch musikalisch kein Halten mehr.

Der menschliche Verstand ist ein wüster Ort. Vielleicht haben sich unsere Begriffe verändert, die Muster bleiben gleich. "VI. Akt" thematisiert den Bruch zwischen Realität und Wahn, immer widerspenstiger und atonaler wird die Musik, während klar wird, dass es kein Happy End geben kann. Der wirkliche Irrsinn lauert dort, wo man ihn am wenigsten vermutet. Hinter einer Rolle, einer Maske, die sich der Mensch überstreift, um in der Herde aufzugehen. Vielleicht sogar, um ihr vorauszueilen und von ihr Gefolgschaft einzufordern. Vertrauen wurde institutionalisiert. Das große Ganze wird es schon regeln, weil es geregelt ist. Was vor 100 Jahren noch eine fiebrige Ahnung zwischen zwei Kriegen war, ist Gewissheit geworden. Der Henker stammt aus der Mitte der Gesellschaft.

(Christopher Sennfelder)

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Highlights

  • III. Akt
  • VI. Akt

Tracklist

  1. Titelsequenz
  2. I. Akt
  3. II. Akt
  4. III. Akt
  5. IV. Akt
  6. V. Akt
  7. VI. Akt

Gesamtspielzeit: 72:33 min.

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Armin

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2020-03-10 21:33:02 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

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