Sam Lee - Old wow
Cooking Vinyl / Sony
VÖ: 31.01.2020
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
One with the birds
Sam Lee ist nicht gerade das, was man sich unter einem typischen Folk-Barden vorstellt. Als einstiger Burlesque-Tänzer erinnert seine Ausstrahlung oft mehr an Sinatra als an Nick Drake. Doch unter der oberflächlichen Verwegenheit pocht das Herz eines Naturburschen im wörtlichsten Sinn. Lee ist glühender Umweltaktivist und Survival-Experte, der mit einer nur aus Vogelgesängen geformten Single die britischen Top 20 knackte und sich so intensiv wie wenig andere seiner Szene-Kollegen für die Sammlung und Wahrung traditioneller Folk-Stücke seiner Heimat einsetzt. Diese Spannungsfelder zwischen Alt und Neu, zwischen Intimität und Theater prägen auch die eigene Musik des Londoners. Mit neuen Arrangements und Textänderungen drückt er britischen Kulturgütern seinen Stempel auf und transferiert sie ins Jetzt. Seine dritte Platte "Old wow" – inspiriert von einem mehrtägigen Aufenthalt in den schottischen Highlands und hochwertig produziert von Suede-Gitarrist Bernard Butler – schafft den Spagat so eindrucksvoll wie keine ihrer Vorgänger.
"Out of decay new life springs", lautet das Motto des eröffnenden "The garden of England". So wie in der Natur aus jedem Verfall etwas Neues entspringt, verhilft Lee uraltem Liedgut zur Wiedergeburt. Aus pulsierenden Saitenanschlägen und effektiv eingesetztem Piano erhebt sich ein majestätisch-fragiles Meisterstück des Jazz-Folks. Dass der Kreislauf von Leben und Tod auch nicht vorm Menschen haltmacht, weiß "Lay this body down". Der gospelartige Beginn schlägt die Brücke zum Ursprung des Stücks als afroamerikanisches Spiritual, ehe Butlers Elektrische die Richtung ändert. Bläser und ein athletischer Kontrabass erzeugen eine Dringlichkeit, die gar Nick Cave & The Bad Seeds ins geistige Studio holt. Doch die Arrangements agieren fernab von Rock-Machismen und auch Lees soulig croonender Bariton schlängelt sich im Einklang mit den Songs, statt sie zu erdrücken. "Old wow" dekonstruiert ur-britische Musiktraditionen nicht, es erweitert sie.
Das Highlight, gerade für Nicht-Genre-Nerds, findet sich in "The moon shines bright". Im Mittelteil dieses an sich schon wunderschönen Klagelieds beschwört die schwermütige Violine einen raren Auftritt der Cocteau-Twins-Legende Liz Fraser. Mit immer noch völlig einzigartiger Stimme singt sie einen Refrain der schottischen Ballade "Old mountain thyme" und bestärkt die mystische Qualität des Albums, die jeden Vorwurf des Natur-Kitsches abwehrt. Auch das folgende "Soul cake" klappt einem die Kinnlade runter, so vital wie hier die Streicher auf- und abebben, während sich unter all der Erhabenheit ein unheimlich sinnlicher Groove entwickelt. Lee wahrt auch inhaltlich den Kern der Originale, erzählt typisch-traditionelle Geschichten von einem Vagabunden namens Spencer, von Familiendramen auf offener See, von einem Mädchen, das die Rückkehr ihres Vaters herbeisehnt. Ob im neoklassisch anmutenden Klavierfluss von "Jasper sea" oder der souligen Interpretation von "Sweet sixteen", der 39-Jährige gibt immer eine blendende Figur ab.
Im Dialog mit der Vergangenheit findet sich stets der Widerhall der Gegenwart. Lee entwertet die Metapher des Liebeslieds "Turtle dove", lamentiert darin keine romantische Bekanntschaft, sondern die tatsächlich vom Aussterben bedrohte Turteltaube. Mit der geradezu wütenden Instrumentierung erhält sein wehmütiges "I shall mourn for thee" besonderen Nachdruck, der auch im psychedelisch losgelösten Fingerpicking von "Worthy wood" noch nicht verflogen ist. Im finalen "Balnafanen", das Lee von seinem Mentor gelernt hat, dem schottischen Wandersänger Stanley Robertson, schwebt seine Stimme nur noch über ein paar atmosphärischen Ambient-Flächen – wie ein Geist, der einer von jedwedem Leben verlassenen Ödnis einen letzten, reuevollen Besuch abstattet. Fantasievoller Vergleich oder düstere Zukunftsvision? Das vermag "Old wow" leider nicht zu beantworten.
Highlights
- The garden of England
- The moon shines bright (feat. Liz Fraser)
- Soul cake
- Turtle dove
Tracklist
- The garden of England
- Lay this body down
- The moon shines bright (feat. Liz Fraser)
- Soul cake
- Spencer the rover
- Jasper sea
- Sweet sixteen
- Turtle dove
- Worthy wood
- Balnafanen
Gesamtspielzeit: 47:58 min.
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