Turbostaat - Uthlande

PIAS / Rough Trade
VÖ: 17.01.2020
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Bei Wind und Unwetter
Das Leben funkt in kleinen und größeren Zellen – in der Familie, im Freundeskreis, im Verein, in Dörfern, Gemeinden und Städten. Turbostaat aus dem Flensburger Umland haben die nordfriesische Provinz in den Genen. Die Stücke der Plattland-Punks wären ohne das Watt, die See, die Deiche und deren Anwohner nicht denkbar. Mit jedem Album heißt es abschweifen zu entweltlichten Orten wie Fuhferden oder Frensendelf, um "Haubentaucherwelpen" zu beobachten, den "Vormann Leiss" kennenzulernen oder einen intimen Blick in den Alltag der Fugbaums zu werfen. Doch all diese Menschen und Landschaften sind nicht bloß der Norden – sie stehen symbolisch für alle Orte, an denen sich das soziale Unwetter zusammenbraut.
Zu den "Uthlande", die dem friesischen Festland vorgelagerten Inseln, Halligen und Marschen, gehört auch "Schwienholt", auf der siebten Turbostaat-Platte ein Kleinod über ländliche Einsamkeit und die Unsicherheit, von der Zukunft vergessen zu werden: "Auch ein Förderband könnte Regale leicht befüllen / Das war's jetzt?" Während Schwienholt unter PLZ 24888 immerhin eine Handvoll Einwohner zählt, entwarfen Turbostaat 2016 die Utopie namens "Abalonia", das Land der Hoffnung – und ob der großen Fluchtbewegung eine bewegende Konzept-Platte über Heimat und Vertreibung, über Krieg und Hoffnung. Das neue Album versucht nun auszuloten, welche Art von Zusammenleben im Alltag unter den aktuellen gesellschaftlichen Vorzeichen überhaupt möglich ist. Sprich gescheiterte EU-Politik, Polarisierung zu Klima- und Fluchtthematik und mit einer Debattenkultur, zu der alle bloß noch radikal schwarz oder weiß gekleidet erscheinen.
Es sind kalte und einsame Zeiten, nicht nur auf dem platten Land. Die Republik sehnt sich nach Geborgenheit, nach warmem Schutzmantel. Man findet ihn im Radio, wie das fantastische "Brockengeist" feststellt. Ein Fünfminüter, der sich langsam erhebt und mit genialer Hook gegen die inhaltliche Ebbe der Deutsch-Pop-Flut ansingt: "Wer den Schnee umarmt, wird die Kälte akzeptieren", lautet die Conclusio. Der Rückzug in die Seelenlosigkeit wird uns nicht helfen. "Uthlande" ist wieder etwas schnörkelloser und ruppiger geraten als "Abalonia": Die Post-Punker "Hemmingstedt" und "La Hague" sowie kompakte Hymnen wie "Stine" und "Luzi" rumpeln derart entschlossen, dass es eine helle Freude ist.
Textlich kehrt wieder etwas mehr Kryptik ein, was jedoch nicht für den fauchenden Opener "Rattenlinie Nord" gilt, den wohl bissigsten Turbostaat-Song seit "Schwan". Dieser erinnert unverblümt an die sträflich vergeigte Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Friesen-Fünfer zieht Alt- und Neu-Nazis, die ihre Ideologie trotz neuer Heiligenscheine gern im Verborgenen gedeihen sehen, ins grelle Scheinwerferlicht. Was völkischer Nationalismus anrichtet, sollte die Geschichte gelehrt haben. Ein Teil der Uthlande ist bereits im Meer versunken, ein anderer Teil kämpft dagegen an – ein perfektes Bild für die gesellschaftliche Spaltung. Das wunderhübsche Artwork dieser Platte wird indes zum trügerischen Schein am Abendhimmel. Nein, wer Leute wie Höcke wählt, ist kein besorgter Bürger.
Die Perfektions-Punks um Songschreiber und Gitarrist Marten Ebsen und Sänger Jan Windmeier ertüfteln ihr Werk aus voller Überzeugung. Längst ist ihr Sound unverkennbar und genreprägend. Und auch, wenn "Uthlande" womöglich zunächst einen Durchgang mehr braucht als die Vorgänger: Turbostaat legen abermals ein Brett von einer Platte vor. Ob nun "Stormi" als post-punkender Nachruf aus dem "Luzi"-Refrain und einem Kinderchor geschnitzt ist, die fräsende Strophen-Gitarre aus "Ein schönes Blau" sich im Handumdrehen einen Hit bastelt oder "Meisengeige" die Einsamkeit zelebriert und die Zuversicht mit dem Twist am Ende vollends tötet – diese zwölf Stücke sind auf ausnahmslos hohem Niveau. Nicht nur deswegen wird "Uthlande" ein treuer Begleiter sein, bei Wind und Unwetter. Solange Turbostaat übers Leben im hohen Norden funken, ist das ein verdammtes Glück.
Highlights
- Rattenlinie Nord
- Schwienholt
- La Hague
- Brockengeist
Tracklist
- Rattenlinie Nord
- Meisengeige
- Ein schönes Blau
- Schwienholt
- Stine
- La Hague
- Nachtschreck
- Luzi
- Heilehaus
- Brockengeist
- Hemmingstedt
- Stormi
Gesamtspielzeit: 42:41 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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eric Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion Postings: 2878 Registriert seit 14.06.2013 |
2020-12-03 10:03:18 Uhr
Voll toll, das Video passt super zur Musik. |
Gomes21 Postings: 5479 Registriert seit 20.06.2013 |
2020-12-02 20:41:33 Uhr
Geil, 1 Nachholtermin und mindestens noch 2 zusatzkonzerte in unmittelbarer Nähe. Das wird gut!! |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28296 Registriert seit 08.01.2012 |
2020-12-02 19:18:42 Uhr - Newsbeitrag
Turbostaat veröffentlichen ein wunderbares Video zum Song "Stormi"! Das Album “Uthlande” erschien am 17.01.2020 auf [PIAS] Recordings."Stormi" ist eine Ode an ihre Heimatstadt Husum und an eine bunte Gestalt ihrer Jugend: den Urenkel des Dichters Theodor Storm. Der Song, der mit vielen Theodor-Storm-Referenzen auskommt, erzeugt eine mittlerweile fast natürliche Turbostaat-Mischung aus bitterem Trost und tiefer Traurigkeit. Ein rührender Kinderchor mit entsprechendem Drama unterstützt die Band dazu im Refrain. "Und die meiste Zeit gehst du auch gern allein", heißt es dort über den zurückgezogenen Außenseiter der Hafenstadt. Der Song wird von ein künstlerischen Video von Krajamine begleitet. "Mitten im ersten Lockdown fand ich mit der Idee, ein Video für Stormi machen zu dürfen, etwas, das mir in dieser Zeit voller Ungewissheit die Möglichkeit gab, eine andere Welt zu erschaffen", erzählt die Erfurterin. "Für dieses Video bin ich nach Husum gereist, hab mich in der Geschichte der fünf Turbostaat-Jungs umgetrieben, bin monatelang in den Bildern einer Stadt versunken. Für mich ist das Projekt am Ende nicht nur Visualisierung eines fantastischen, traurigen Songs: es ist monatelanger Eskapismus.“ Turbostaat 14.-15.05.21 Untermerzbach - Rambazamba Festival 19.06.21 Scheeßel - Hurricane Festival 20.06.21 Neuhausen Ob Eck - Southside Festival 22.-24.07.21 Bausendorf – Riez Open Air 11.-15.08.21 Eschwege - Open Flair Festival 13.-15.08.21 Großpösna - Highfield Festival 09.10.21 AT-Salzburg – Rockhouse Birthday Party 21.10.21 Kiel – Die Pumpe 22.10.21 Hannover - Capitol (Nachholtermin) 23.10.21 Münster - Sputnikhalle (Nachholtermin) 24.10.21 Erfurt - Central 26.10.21 Bochum - Bahnhof Langendreer 27.10.21 Heidelberg - Karlstorbahnhof 28.10.21 Freiburg - Waldsee 29.10.21 München - Strom 30.10.21 Stuttgart – Wizemann Club 31.10.21 LUX – Luxemburg - Kulturfabrik 03.12.21 Bielefeld - Forum 04.12.21 Wuppertal - Börse 05.12.21 Marburg – KFZ (Nachholtermin) 07.12.21 Erlangen – E-Werk 08.12.21 Karlsruhe - Substage 09.12.21 CH-Bern - ISC 10.12.21 CH-Zürich - Dynamo 11.12.21 Chemnitz - AJZ 03.02.22 Bremen – Schlachthof (Nachholtermin) 04.02.22 Lübeck – Treibsand (Nachholtermin/Ausverkauft) 05.02.22 Rostock – M.A.U. Club (Nachholtermin) 10.02.22 AT-Wien – Das Werk (Nachholtermin) 11.02.22 Leipzig – Conne Island (Nachholtermin) 12.02.22 Leipzig – Conne Island (Nachholtermin) 13.02.22 Aschaffenburg – Colos Saal (Nachholtermin) 15.02.22 Trier – Mergener Hof 17.02.22 Düsseldorf – Zakk (Nachholtermin/Ausverkauft) 18.02.22 Wiesbaden - Schlachthof 19.02.22 Oldenburg - Kulturetage Booking: KKT |
Kai User und News-Scout Postings: 3117 Registriert seit 25.02.2014 |
2020-12-01 16:22:58 Uhr
Eine Session zu den Alben würde ich mitmachen aber ein Interpretationstopic ist iwie nix für mich |
Gomes21 Postings: 5479 Registriert seit 20.06.2013 |
2020-12-01 08:23:13 Uhr
Ich würde zumindest mitlesen :-D |
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