Lankum - The livelong day
Rough Trade / Beggars / Indigo
VÖ: 25.10.2019
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Das Blut der grünen Insel
Was verbindet der gemeine Festland-Europäer mit Irland? Die endlosen, smaragdgrünen Postkarten-Landschaften sicherlich oder auch ebenso endlose Pub-Nächte mit Guinness, Whisky und lauter, jubilierender Musik. Kurz: Idylle und gute Laune. Dass solche Stereotype die Realität des Landes bestenfalls bruchstückhaft wiedergeben, scheinen sich Lankum auf die Fahnen geschrieben zu haben. Das irische Quartett, bestehend aus den Brüdern Ian und Daragh Lynch, Radie Peat und Cormac MacDiarmada, nutzt zwar traditionelle Instrumente seiner Heimat, erschafft damit aber etwas ganz und gar Vorwärtsgewandtes. Sie erzeugen Drones mit Dudelsack und Akkordeon, experimentieren mit Ambient und Noise und deuten ihr musikalisches Erbe in überlange, melancholische Epen um. "The livelong day" reißt die Erde unter den grünen Hügeln auf und verwandelt das Paradies in einen postapokalyptischen Abgrund. Wer schon immer wissen wollte, wie Swans als Irish-Folk-Band klingen würden, bekommt hier die bestmögliche Annäherung.
Nirgendwo wird Lankums Drang zur radikalen Neuinterpretation deutlicher als im Opener. "The wild rover", salopp gesagt Irlands berühmtestem Sauf-Song, entziehen sie komplett die Lebensfreude und Beschwingtheit. Beginnend mit enervierenden Streichersägen setzt Peat zu einem achtminütigen Klagegesang an, der sich in einer kaum in Worte zu fassenden instrumentalen Klimax kathartisch entlädt – mit Sicherheit die intensivsten zweieinhalb Minuten des Musikjahres 2019. Da eine weitere Steigerung gar nicht mehr möglich ist, löst "The young people" die Spannung wieder vollständig auf. Es ist eine von den Lynch-Brüdern gesungene Eigenkomposition, die ebenfalls hunderte Jahre alt sein könnte und eine andere, hoffnungsvollere Seite der Band zeigt. Allerdings nur aufs erste Ohr, da sich hinter der zärtlichen Melodie und triumphalen, endlos wiederholten Refrains eine Geschichte von Suizid verbirgt: "Found them swinging / Four long years ago / His tongue was tasting the morning."
Dieses Beieinander von Licht und Dunkel ist genauso charakteristisch für "The livelong day" wie sein stets respektvoller Umgang mit der Tradition, der jene nicht zerstören, sondern erweitern will. Auch die drei rein instrumentalen Tracks schaffen es, ganz ohne Worte jeden Aspekt von Lankums Kunst auf den Punkt zu bringen. Schiffshorn-artiges Dröhnen erfüllt die majestätische Langsamkeit von "Ode to lullaby", dessen Dringlichkeit – wie beim Großteil des Albums – keine Form von Percussion benötigt. Im Kontrast dazu folgt das federleicht tanzende "Bear Creek", das McDiarmadas Fiddle ihren größten Auftritt verschafft und sich mit Bluegrass-Anleihen auch vor amerikanischer Volksmusik verneigt. "The pride of Petravore" gibt als furchterregender Höllenmarsch mit debiler Flötenmelodie schließlich auch dem Wahnsinn Raum. Es ist der gleichermaßen schöne wie nervenaufreibende Natur-Albtraum von Ari Asters Film "Midsommar", der dieser ohnehin schon cineastischen Musik als Referenz dienen kann.
Bei aller instrumentalen Klasse öffnet sich die letzte Tiefenebene jedoch erst durch den Text. "If I was where I would be / Then I'd be where I am not / Here I am where I must be / Where I would be, I cannot." Das möglicherweise von den Entbehrungen einer Prostituierten handelnde Traditional "Katie cruel" verwandeln Lankum in eine neunminütige Elegie des Schmerzes, die mit dem perlenden Folk von Karen Daltons Version nicht viel gemein hat. Ein Glück, dass "The dark eyed gypsy" im Anschluss mit sanften Gitarren- und Akkordeon-Klängen die nötige Auflockerung bringt. Doch das Finale "Hunting the wren" drückt wieder tief ins Fleisch, erzählt die Geschichte von irischen Frauen im 19. Jahrhundert, die auf den Feldern des County Kildare ein von der Gnade der Natur abhängiges Leben führen mussten: "Sharp is the wind / Cold is the rain / Harsh is the livelong day / Upon the wide open plain." Kein Reiseführer oder kitschiger Irish Pub wird einem die wahre Essenz Irlands so vermitteln können, wie es Lankum hier tun.
Highlights
- The wild rover
- The young people
- Bear Creek
Tracklist
- The wild rover
- The young people
- Ode to lullaby
- Bear Creek
- Katie cruel
- The dark eyed gypsy
- The pride of Petravore
- Hunting the wren
Gesamtspielzeit: 56:48 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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ijb Postings: 6521 Registriert seit 30.12.2018 |
2023-03-23 14:36:24 Uhr
Wäre demnach hier massiv unterbewertet.Den Unterschied von 7,9 und 8,1 find ich jetzt nicht ganz so massiv... |
Z4 Postings: 8861 Registriert seit 28.10.2021 |
2023-03-23 13:32:28 Uhr
Beim Guardian 10/10:https://www.theguardian.com/music/2019/oct/18/lankum-the-livelong-day-review Wäre demnach hier massiv unterbewertet. |
Mayakhedive Postings: 2583 Registriert seit 16.08.2017 |
2019-12-01 15:41:19 Uhr
Der weibliche Gesang behagt mir irgendwie nicht so wirklich, aber ich werde sicher noch ein paar Versuche starten da ich für dieses Irland-Feeling eigentlich schon sehr empfänglich bin.Einstweilen sind mir da aber "The Gloaming" aus den Referenzen noch lieber. |
Der Untergeher User und News-Scout Postings: 1871 Registriert seit 04.12.2015 |
2019-12-01 15:32:21 Uhr
Tolles Album. Freut mich, dass es hier rezensiert wurde.Die Drone Elemente wurden behutsam ins Arrangement eingeflochten. Finde ich sehr gelungen gemacht. Es ist eben nicht Irish Folk mit Sunn o))) Soundwänden, sondern eine eigene subtile geschlossene Einheit. |
Klaus Postings: 9914 Registriert seit 22.08.2019 |
2019-12-01 15:03:35 Uhr
Gefällt! Zwar sind die Drone/SunnO)))-Anleihen für mich nicht hörbar, dennoch spannende Sache. Besonders der Opener. |
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Referenzen
Lynched; The Watersons; Planxty; Comus; Caomhín Ó Raghallaigh; The Gloaming; Ensemble Ériú; Cormac Begley; Donnacha Dennehy; Lisa O'Neill; Stick In The Wheel; Anna & Elizabeth; Modern Studies; Sam Amidon; Richard Dawson; Angels Of Light; Swans; Sunn O))); The Haxan Cloak; Low; Slint; A Silver Mt. Zion; Crippled Black Phoenix; Hildur Guðnadóttir; Henryk Górecki; Xylouris White; Trembling Bells; The Young'uns; The Unthanks; Ry Cooder; Bonnie 'Prince' Billy; Joan Baez; Buffy Sainte-Marie; The Dubliners; The Pogues
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