Frustration - So cold streams
Born Bad / Cargo
VÖ: 25.10.2019
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
Wüten im Walzwerk
Zivilisation – was heißt das schon? Nicht allzu viel. Riesige Fabrikhallen als deprimierendste Arbeitsplätze der Welt, monströse Turbinen, an denen unterbezahlte Blaumänner herumschrauben, grässliche Betonbunker, vor denen bereits der nächste hochgezogen wird, kafkaeske Gerichtssäle voll unbarmherziger Staatsdiener mit eingefrorenen Gesichtszügen – so sehen sie aus, unsere (un)menschlichen Errungenschaften. Zumindest auf den Platten des Pariser Quintetts Frustration, dessen Bandname sich beim Blick auf solche trostlosen Artworks schnell von selbst erklärt. "So cold streams" könnte da beinahe idyllisch wirken, würde sich auf dem Cover nicht der Mensch vor dunkelgrauem Himmel die ursprünglich malerische Natur gnadenlos untertan machen. Schön ist anders, musikalisch versöhnlich auch. Bereits seit einer Mini-LP und drei Alben.
Dass das vierte seinen Titel nicht ohne Grund trägt, wird früh deutlich: Die Kriechströme der zuckenden Durchlauf-Sequenz im Auftakt "Insane" sind in der Tat eisig – und stehen der Unerbittlichkeit, mit der die Franzosen ansonsten die rabiate Spielart des Post-Punk mit blecherner Cold-Wave-Lichtlosigkeit aufbohren, in nichts nach. Nach einer halben Minute beginnt die Maschine so gnadenlos zu arbeiten wie das Baustellenpersonal, während Fabrice Gilbert kehlig die Stimme erhebt und stotternde Licks und Flexipop-Gefiepe lediglich schüchtern nebenhereiern, um von diesem imposanten Industrial-Stampfer nicht plattgewalzt zu werden. Widerstand zwecklos – doch das soll die Band sein, für die das Beste an Joy Division von jeher der Vorläufer Warsaw war und die sich mehr als einmal auf The Fall und Mark E. Smiths Rüpeleien bezog?
Zweifel, die nicht lange Bestand haben: Der folgende Punkrocker "Pulse" kann es locker mit dem rasenden "Blind" vom Debüt "Full of sorrow" aufnehmen. Wild, wütend, wahnsinnig – ein manischer Dreisatz, der auch auf "So cold streams" gilt, obwohl Frustration die vernichtenden Ausbrüche in Songs wie "Pepper spray" auch immer wieder mit Schlepp-Passagen und digitalen Stolperfallen ausstatten. Fast vermisst man beim ausgedehnten Midtempo-Erdwurm "Slave markets", der zu schlürfendem Bass emulierte Steeldrums und die orientalische Laute Oud aus der Schublade holt, schon die genretypische Angewidertheit – da platzt Sleaford Mod Jason Williamson in die Veranstaltung und motzt inklusive herzlichem "death to you fucking cunt" über den Existenzkampf in Zeiten sozialer Schieflage. Großer Existenzialismus – nur mit F-Wörtern.
Ähnlich nachdenklich gerieren sich Frustration lediglich beim melancholischen, wiewohl rhythmisch verdrehten Indie-Jangle-Pop von "Lil' white sister", der auch von frühen Echo & The Bunnymen mit Bauchgrimmen stammen könnte. Der formidable Wutklumpen "Brume" hingegen zeigt den Frontmann vor einer rohen Kulisse aus dröhnenden Stahlsaiten und Buntmetall-Geschepper, und der tosende Hardcore-Brecher "When does a banknote start to burn?" wetzt verheißungsvoll die Messer für "Le grand soir" und den Abgesang auf den Kapitalismus am Vorabend der Revolution. Immerhin muss nach dieser niemand erschossen werden – fürs Erste reicht es, dieses elektrifizierte Meisterwerk des Meta-Punk zu hören. Auf Kopfhörer, in Dauerschleife, bei maximaler Lautstärke. Taube Ohren danken es Ihnen. Und am Ende vielleicht sogar die Zivilisation.
Highlights
- Insane
- Slave markets
- Brume
Tracklist
- Insane
- Pulse
- Slave markets
- When does a banknote start to burn?
- Brume
- Some friends
- Lil' white sister
- Pepper spray
- Le grand soir
Gesamtspielzeit: 38:25 min.
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User | Beitrag |
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Sloppy-Ray Hasselhoff Postings: 2176 Registriert seit 02.12.2019 |
2019-12-02 12:23:34 Uhr
... mit Lil' white sister rein. Erster Gedanke: In Camera - co-ordinates?Beste Post-Punk-VÖ seit langem. Post-Punk darf auch verstören. Gelingt gut:-) In Camera könnte man jedenfalls in den Referenzen noch anführen. |
Klaus Postings: 9522 Registriert seit 22.08.2019 |
2019-12-01 15:04:01 Uhr
Drei Songs gehört, frustriert abgeschaltet (die Stimme des Sängers geht gar nicht). |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27219 Registriert seit 08.01.2012 |
2019-12-01 14:48:17 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.Meinungen? |
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Referenzen
Cheveu; Joy Division; Warsaw; Agent Side Grinder; Charles De Goal; 1984; Métal Urbain; Marquis De Sade; Maquis; Wire; Wipers; Black International; European Ghost; Holygram; Preoccupations; Diät; Fotocrime; A Projection; Dial M For Murder!; Autobahn; Eagulls; Poni Hoax; Les Thugs; Blessure Grave; Soft Kill; Siglo XX; Joy Disaster; Opera Multi Steel; Ascetic; Ritual Howls; Pop. 1280; Suicide; Sextile; Dolium; Sad Lovers & Giants; Section 25; The Sound; Second Layer; The Danse Society; Play Dead; Killing Joke; Public Image Limited; Red Lorry Yellow Lorry; Protomartyr; The Fall; Sleaford Mods; Nation Of Ulysses; Escape-ism; DAF; The Pop Group; Smersh; The Ex; Crass; The Stooges; Dead Kennedys; Black Flag; Big Black; Rapeman; Shellac; Stiff Little Fingers; Echo And The Bunnymen; The Smiths; The Chameleons; The Comsat Angels
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