Céline Dion - Courage
Columbia / Sony
VÖ: 15.11.2019
Unsere Bewertung: 3/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Modern vermodern
Céline Dion ist ein Paradebeispiel dafür, wie das eigene Aufwachsen die Perzeption von Musik völlig beeinflussen kann. Ich bin in einem Haushalt mit zumindest partiellem Céline-Dion-Fantum großgeworden. Ihre zahlreichen Hits in den Neunzigern waren allgegenwärtig präsent. Wenn ich heute ein Album wie das 1996 veröffentlichte "Falling into you" oder das zuvor veröffentlichte französischsprachige "D'eux" abspiele, kann ich zwar nachvollziehen, warum es für viele eher schlimmere Auswüchse aalglatter Adult-Pop-Pampe ist. Mich versetzen die Stücke allerdings auf wohlige Weise zurück in die Kindheit. "Because you loved me", "Pour que tu m'aimes encore", "Call the man" – es ist, als ob ich sie erst kürzlich das letzte Mal gehört hätte. Und gegen den grandiosen Pomp von "It's all coming back to me now" dürfen selbst Dion-Hasser nichts sagen. Gegen ihre durchaus witzige Art darüber hinaus auch nicht.
Ich könnte noch ewig in Erinnerung schwelgen, nur um nicht auf "Courage", das immerhin 27. Album der Kanadierin, zu sprechen zu kommen. Zugegeben, das letzte mir wirklich bekannte Werk war bis hierhin "Let's talk about love" – genau, das mit dem "Titanic"-Hit – danach drangen nur noch einzelne Singles zu mir vor. Aber schließlich haben vergleichbare Radio-Mainstays aus der damaligen Zeit wie Mariah Carey oder Toni Braxton mit ihren letzten Platten durchaus überzeugen können, warum nicht auch Dion? Nun ja, deshalb nicht: Weil ihr Album ein heilloses Durcheinander mit furchtbar greller Produktion ist. Stellenweise muss es in der Tat "Courage" gebraucht haben, um sich am Ende hinzustellen und zu sagen: "Ja, das ist das fertige Produkt. Hier können wir nichts mehr dran verbessern."
Wenn die Stimme im Bumsbeat-Opener "Flying on my own" einsetzt, muss man genau hinhören, um zu merken, dass es tatsächlich Dion ist, die sich da unter 1.328 Effektfiltern in den Mix kämpft. Bemerkenswert, da ihr Organ eigentlich sonst nach wenigen Millisekunden erkennbar ist. Der Refrain bratzt unsanft einmal über die Tanzfläche der Dorfdisko, und man fragt sich, wo die alte Erhabenheit hin ist. Modernität steht Dion nicht, das zeigt "Courage" auch mit völlig unpassenden, aber derzeit halt angesagten Vocal-Kieksern und Soft-EDM-Anleihen wie in "Imperfections". Zum Glück gibt es ja genügend klassisch klaviergeschwängerte Balladen, möchte man meinen. Ganze vier in einer Reihe zwischen den angesprochenen beiden Stücken. Das ist in der Tat angenehmer zu hören als die Dance-Versuche. Trotz allem geht das oft hier rein, da raus, erschlägt zudem in dieser Geballtheit.
Und "Courage" holt immer weitere Songs aus dem Ärmel. Einen nach dem anderen, immer mit den gleichen Durchhalteparolen vom Nichtaufgeben und Weitermachen, "Falling in love again", "I will be stronger", yadda yadda. 20 sind es, nach noch mehr fühlt es sich an. (Es gibt auch eine CD-Version mit 16 Tracks – dass sie schwerer zu finden ist und teils sogar teurer verkauft wird, spricht für sich.) Irgendwo weit hinten gelingt mit "Perfect goodbye" eine schöne Piano-Ballade, trotz der bei einem Dion-Song irritierenden Zeile "This shit is perfect". "Look at us now" geht auch klar, "Heart of glass" erinnert an bessere Sia-Songs. Der Titeltrack transportiert in guten Moment ebenfalls etwas. Am Ende sind es leider nur Tropfen auf dem heißen Stein. "Courage" könnte außerdem auch im Random-Modus laufen – nur dass dann eben nicht das Schlimmste gleich am Anfang abgehakt wird.
Wenn "For the lover that I lost" oder "Lovers never die" sich mit dem Tod ihres Ehemanns Anfang 2016 beschäftigen, möchte ich eigentlich etwas Positives dazu schreiben. Aus alter Verbundenheit. Aber hier regt sich keine Emotion, obwohl bei ersterem Sam Smith mitgewirkt hat, der mit solchen Rührstücken eigentlich Erfahrung hat. Auch die Melismen, mit denen Dion in "Baby" Wörter über zehn Silben streckt, versprühen nicht den gewünschten Effekt, wirken gezwungen. Nostalgie ist jedoch ein starkes Gefühl, dem "Courage" nichts anhaben kann. Die alten Stücke entfalten immer noch die gleiche heimelige Wirkung. Sie sind genau wie "Courage" auch in ihrer Zeit verwurzelt, aber sie sind besser geschrieben und produziert – und bringen eben in meinem Fall ganz persönliche Erinnerungen mit. Die aktuelle Platte wird hingegen eine bald vergessene Fußnote sein.
Highlights
- Perfect goodbye
- Heart of glass
Tracklist
- Flying on my own
- Lovers never die
- Falling in love again
- Lying down
- Courage
- Imperfections
- Change my mind
- Say yes
- Nobody's watching
- The chase
- For the lover that I lost
- Baby
- I will be stronger
- How did you get here
- Look at us now
- Perfect goodbye
- Best of all
- Heart of glass
- Boundaries
- The hard way
Gesamtspielzeit: 70:51 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Neytiri Postings: 1619 Registriert seit 14.06.2013 |
2019-11-15 14:43:30 Uhr
Lying down |
Neytiri Postings: 1619 Registriert seit 14.06.2013 |
2019-11-15 14:37:51 Uhr
Klasse Album, das mit "Lying down" den besten Song dieser Musikrichtung seit "Hello" von Adele zu bieten hat. Keine Ahnung, gegen welchen Türstock der Rezensent gelaufen ist, bevor er das Album gehört hat. |
dieDorit Postings: 2797 Registriert seit 30.11.2015 |
2019-11-15 10:36:19 Uhr
Ich gebe aber auch zu, dass ich damals "Let's talk about love" rauf und runter gehört habe, wobei ich aufgrund der Dauerbeschallung im Radio "My heart will go on" immer geskipt habe. Von daher hab ich aus nostalgischen Gründen die Rezension auch gelesen. |
dieDorit Postings: 2797 Registriert seit 30.11.2015 |
2019-11-15 10:27:47 Uhr
Dass Witt hier regelmäßig rezensiert wird und immer wieder fleißig 1 Punkt absahnt, hat aber auch Plattentests-Tradition :) |
tumbleweed Postings: 322 Registriert seit 02.09.2019 |
2019-11-15 10:20:10 Uhr
Solche Antworten haben wir schon vor 19 Jahren bekommen. Etwas Provokation oder mal ne 1 für ein Witt-Album wird meist auch gelesen. Ist oft populärer als die Rezension des neuen Albums von Car Seat Headrest (Beliebige Band einsetzen ausser Tool!) |
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Referenzen
Lara Fabian; Mariah Carey; Whitney Houston; Mylène Farmer; Faith Hill; Barbra Streisand; Tina Turner; Shania Twain; Cher; Adele; Sia; Kelly Clarkson; Take That; Gary Barlow; Westlife; Beyoncé; Toni Braxton; Christina Aguilera; Lady Gaga; Leona Lewis; Ariana Grande; Alicia Keys; Madonna; Anastacia; Sam Smith; Lewis Capaldi
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