Listen




Banner, 120 x 600, mit Claim


Nick Cave & The Bad Seeds - Ghosteen

Nick Cave & The Bad Seeds- Ghosteen

Ghosteen / Bad Seed / Rough Trade
VÖ: 04.10.2019

Unsere Bewertung: 9/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Der Flügelschlag des Schmetterlings

Manchmal sind es ganz kleine Dinge, die einen großen Effekt haben. Es dauert in etwa zwei Minuten im Song "Sun forest" auf Nick Cave & The Bad Seeds 17. Album "Ghosteen". Bis dahin hat ein waberndes Ambient-Intro eine kleine Verschnaufpause gegeben. Und dann? Ertönen zwei Klavieranschläge. Nichts Besonderes eigentlich. Und doch haben diese zwei Töne eine seltsam befreiende Wirkung, das Lösen eines verspannten Wartens auf – was eigentlich? Es bleibt eins von vielen scheinbar unbedeutenden Elementen des Albums, die für einen Moment Gänsehaut verursachen. So wie ein vermutlich nur kleiner Schritt zu einer Platte wie "Ghosteen" überhaupt geführt hat. Diesen Schritt tat Caves damals 15-jähriger Sohn Arthur im Juli 2015 in der Nähe von Brighton, bevor er von einer Klippe stürzte und zu Tode kam. Diese Geschichte ist bekannt und doch immer noch ungeheuer wichtig zur Einordnung von Caves aktuellem Werk. "Skeleton tree" war zwar fast vollständig vor dem Unfall geschrieben worden, trug aber in der Aufnahme hörbar den Schock mit sich. "Ghosteen" geht naturgemäß offensiver mit der Situation um, verweist nicht nur mit seinem Titel auf Arthur, sondern präsentiert sich als existenzielles Verarbeitungsalbum.

Es wäre jedoch unangemessen, dieses kunstvoll angelegte Doppelalbum rein darauf zu reduzieren. Cave hat eine musikalische Vision umgesetzt, die weitblickender ist. Das manifestiert sich allen voran im homogenen Klangbild, das stark von atmosphärischen Synthesizern geprägt ist, häufig wie etwa auf "The boatman's call" das Klavier in den Vordergrund stellt und hier und da ins Orchestrale abgleitet. Über all diesem thront das Streben nach Schönheit. Ja, diese Songs sind schön, so unglaublich schön, dass es teilweise nur schwer fassbar ist, was da passiert. Man mag den durchaus esoterisch angehauchten Sound als Kitsch abtun, aber wer beim wortlosen Klagegesang im Refrain von "Bright horses" keine Rührung verspürt, muss ein Eisklotz sein. "Everyone is hidden / And everyone is cruel / There's no shortage of tyrants / And no shortage of fools." Der Australier malt schwarz, auch wenn die lichtdurchflutete Musik dagegenhält. Womöglich werden wir den ironisch-bissigen Cave von früher nie wieder bekommen, was verständlich ist – auch wenn ganz selten wie beim Jesusprediger aus "Waiting for you" diese Seite aufblitzt. Die neugefundene Intimität ist jedoch noch viel einnehmender. Dazu passt der häufiger eingesetzte Falsettgesang, der ihn weniger erhaben, dafür brüchig und nahbar wie nie erscheinen lässt.

Ein weiterer ergreifender Höhepunkt ist das bereits angesprochene "Sun forest". Sogar ein "Let's go" kommt Cave über die Lippen, bevor er ein überbordendes Bild zeichnet: "Come on everyone! / A spiral of children climbs up to the sun." Der Song verdichtet sich herrlich, doch als er vermeintlich schon am verklingen ist, greift eine unerwartete und erschütternde Coda zu. "I am here / I am beside you", haucht eine helle Stimme von weit weg. Keine Frage, wer da spricht – doch bevor der "Ghosteen" greifbar wird, ist er schon wieder entschwunden. Es ist nicht der einzige Moment, in der unter all dem Wohlklang das Geisterhafte durchscheint. "Waiting for you" beginnt mit einem schwerfällig schnaufenden Beat, der mysteriöserweise nach wenigen Sekunden wieder verschwindet und nie mehr wieder erscheint. Das golden schimmernde "Galleon ship" ist von rückwärts abgespielten Sprachfetzen durchzogen, die in der Tat wie eine Botschaft aus dem Jenseits klingen. Cave hält seine Mantras dagegen. "Peace will come", heißt es mehrfach im Opener "Spinning song" und es klingt eher wie ein hilfloses Flehen anstatt nach Gewissheit. "I love my baby and my baby loves me", wiederholt er in "Leviathan" so oft, als müsse er sich diesen Umstand immer wieder bewusst machen.

Die kürzeren acht Stücke des ersten Teils versteht das Konzept der Platte als Kinder der längeren beiden elterlichen Kompositionen in Teil zwei, welche wiederum durch das hübsch unruhig untermalte Spoken-Word-Intermezzo "Fireflies" verbunden werden. Und besonders in diesen beiden ausladenden Stücken steckt der Kern der Vision von "Ghosteen". Der Titeltrack ergötzt sich an den besten Melodien auf diesem an herrlichen Melodien wirklich nicht armen Album, die Streicher pinseln die Szenerie, die Cave in den eröffnenden Worten beschreibt: "This world is beautiful / Held within its stars." Die Klimax ist von kaum zu ertragender Euphorie. "A ghosteen dances in my hand / Slowly twirling all around." Die Sehnsucht, den Verblichenen zurückzuholen, ist da, doch Cave und seine Familie haben sich zugleich wieder gefunden, irgendwo zwischen Häuslichkeit, Lethargie und Akzeptanz: "Mama Bear holds the remote / Papa Bear, he just floats / And Baby Bear, he is gone to the moon in a boat." Wenn ein Synth Herzen brechen kann, ist es der, der an dieser Stelle gespielt wird. Es ist zum Weinen schön, es ist zum Heulen traurig.

"We are fireflies pulsing dimly in the dark / We are here and you are where you are." Aus dem Jenseits sieht die Welt ganz klein aus. Dort fährt Cave im überragenden Closer "Hollywood" die Küste entlang, versucht, sich mit seinen Dämonen zu arrangieren. Das Blatt wendet sich, der ganze Wohlklang ist einem sinistren Unterton gewichen. Wer David Lynchs "Mulholland Drive" kennt, weiß, welchen Effekt diese Straßen nachts haben können. "The fires continued through the night / [...] / We crawled into our wounds / I'm nearly all the way to Malibu." Der Seelenfrieden, er kommt nicht einfach so. Stattdessen scheint der Track nach knapp neun Minuten wie eine gesprungene Vinylplatte zu hängen, gefangen in einer Schleife. Es ist eine unheimliche Stelle. Bald wird klar: Es geht nicht mehr zurück, die kurzzyklische Repetition ist der neue Rhythmus. Genau wie auch Cave die Zeit nicht zurückdrehen kann. Dann erneut ein Wandel: "Villagers shake their heads and say to her / 'Better bury your baby in the forest quick'" – auf einmal ist "Ghosteen" bei Storytelling, bei Buddha, bei Massenmord. Die Stimme nimmt einen krächzenden Ton an. Und doch schließt sich am Ende der Bogen zum Opener mit den Worten: "And I'm just waiting now for peace to come."

Dann ist es vorbei. Wenn "Ghosteen" eine Trilogie mit "Push the sky away" und "Skeleton tree" bilden soll, wie es die Band verlauten ließ, dann ist das zuallererst sinnvoll, weil es qualitativ mühelos neben den anderen beiden fulminanten Platten bestehen kann. Natürlich lassen sich auch durch den stufenweisen Wegfall von Percussion und den steigenden Einsatz synthetischer Instrumente stilistische Fäden zu den Vorgängern spinnen. Letztlich erschafft "Ghosteen" jedoch vor allem sein ganz eigenes Universum mit beträchtlicher Sogwirkung. Und es zementiert das Argument, dass Cave nach drei Alben von solch wahnsinnig hoher Klasse der beste aktive Songwriter überhaupt ist. Der sich nach über vier Jahrzehnten musikalischem Schaffen so verletztlich, wandelbar und brillant zeigt wie nie zuvor. Mit großen Gesten und kleinen Details, die im Zusammenspiel ein überwältigendes Ganzes ergeben.

(Felix Heinecker)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Bestellen bei Amazon / JPC

Highlights

  • Bright horses
  • Sun forest
  • Ghosteen
  • Hollywood

Tracklist

  • CD 1
    1. Spinning song
    2. Bright horses
    3. Waiting for you
    4. Night raid
    5. Sun forest
    6. Galleon ship
    7. Ghosteen speaks
    8. Leviathan
  • CD 2
    1. Ghosteen
    2. Fireflies
    3. Hollywood

Gesamtspielzeit: 68:19 min.

Album/Rezension im Forum kommentieren (auch ohne Anmeldung möglich)

Einmal am Tag per Mail benachrichtigt werden über neue Beiträge in diesem Thread

Um Nachrichten zu posten, musst Du Dich hier einloggen.

Du bist noch nicht registriert? Das kannst Du hier schnell erledigen. Oder noch einfacher:

Du kannst auch hier eine Nachricht erfassen und erhältst dann in einem weiteren Schritt direkt die Möglichkeit, Dich zu registrieren.
Benutzername:
Deine Nachricht:
Forums-Thread ausklappen
(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Corristo

Postings: 1058

Registriert seit 22.09.2016

2022-08-13 19:12:34 Uhr
Kenne bei weitem noch nicht seine komplette Diskographie und hatte mich vor dem Album wegen der Thematik lange Zeit gescheut. Weil den ohnehin öfters in Abgründe von Traurigkeit vordringenden Nick Cave so völlig niedergeschlagen zu hören, ist keine so leichte Angelegenheit. Jetzt denke ich, es ist einfach ein sehr spezielles Album. Aus musikalischer Sicht ist es interessant, dass es völlig anders alle vorigen Alben ist mit den vielen flächigen Keyboards und eher skizzenhaften, ambienthaften Songs.

Inhaltlich denke ich auch, dass Nick Cave etwaige Kitschgrenzen völlig egal sind oder was Kritiker von ihm denken. Sicher mit das Traurigste überhaupt, als Vater seinen eigenen Sohn betrauern zu müssen und das ist eben das alleinige Thema des Albums. Das möchte ich nicht bewerten. Deswegen kommt es zum Konzept passend jedenfalls sehr zurückgenommen daher und sämtliche lauteren oder extravaganteren Akzente sucht man hier vergeblich, so als hätte Cave auch jegliche Kraft dafür gefehlt und die Band dient ihm eben zu 100%. Für mich 8/10, aber ich werde das Album eher selten hören.

Ansonsten hat er eine so umfassende Diskographie am Start, dass er wohl niemandem mehr was beweisen muss und es verschmerzbar ist, wenn jemand mit dem Album gar nichts anfangen kann.

fuzzmyass

Postings: 14902

Registriert seit 21.08.2019

2021-11-12 02:43:40 Uhr
Album seit Ewigkeiten nicht gehört und auch kaum Lust dazu... für mich die schwächste Cave Platte aller Zeiten... berührt mich nicht, packt mich nicht... gegen eine Trauerbewältigung habe ich überhaupt nichts, aber die Art und Weise bzw. der Stil ist für mich überkünstelt und überladen und überzogen... ich werde es nochmal probieren, aber glaube das wird nichts mehr...

dreckskerl

Postings: 9765

Registriert seit 09.12.2014

2021-11-11 14:12:34 Uhr
Den hast du mir offenbar übelgenommen...schade.


Sloppy-Ray Hasselhoff

Postings: 1738

Registriert seit 02.12.2019

2021-11-11 13:58:31 Uhr
Hört, hört!

Mister

>Ich finde schon, wenn man sich als Musiknerd definiert, sollte man sich auch mit der gesamten Musikgeschichte, zumindest mal befasst haben.<

äußert sich zu Nick Cave.

dreckskerl

Postings: 9765

Registriert seit 09.12.2014

2021-11-11 13:37:43 Uhr
Ich käme auch nicht auf die Idee, Cave mangelnde Authentizität vorzuwerfen, das hört man an seinem Vortrag.
Es ist indes trotzdem so, dass die von Cave gewählten musikalischen Mittel, seine Trauer und seinen Schmerz und die Folgen auf sein "mindset" auszudrücken, mich im Ergebnis kaum erreichen.

Zum kompletten Thread

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Bestellen bei Amazon

Threads im Plattentests.de-Forum

Anhören bei Spotify