Patrick Watson - Wave
Domino / GoodToGo
VÖ: 18.10.2019
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
Kopf über Wasser
Platsch! Kaum hat man auf "play" gedrückt, schon fühlt man sich wie in einen sanft wogenden Ozean geschmissen. Sie irritiert zunächst, diese hilflose Schwebe im ungreifbaren Dunklen, doch das Wasser ist angenehm warm, Lichtstrahlen dringen hindurch und zuweilen schafft man es sogar bis an die Oberfläche. Gitarren blubbern, bunte Fische erzeugen unerwartete Klänge beim Vorbeischwimmen und Wellen der Percussion kitzeln die Haut, ohne sie je einzudrücken. Die ganze Zeit lauscht man der betörenden Stimme eines Meermanns, manchmal unterstützt von der ein oder anderen Nixe, die mit letzter Konsequenz dafür sorgt, dass man nie wieder trockenes Land unter den Füßen haben will. Nein, der Rezensent ist nicht (wieder) beim "Arielle"-Gucken auf Pilzen eingeschlafen, er beschreibt das Kopfkino, das "Wave" bei ihm auslöst – ein Album, das so sehr um seine Assoziationen zu wissen scheint, dass es sie gleich im Titel bekräftigt.
In gewisser Weise ist Patrick Watson damit wieder am Anfang seiner Karriere angekommen, als er mit seinem Debüt "Waterproof9" die Unterwasser-Fotographien Brigitte Henrys untermalte. Doch "Wave" trägt die Zeichen und Narben einer fast 20 Jahre andauernden Entwicklung, persönlich wie musikalisch, bereichernd wie entbehrungsreich. Im Vorfeld der Arbeiten zu seinem siebtem Studioalbum musste der Kanadier seine Mutter beerdigen, das Ende einer Beziehung und den Abschied seines langjährigen Drummers verkraften. "Never thought you were leaving / I never thought I'd have to start again", haucht er im Opener "Dream for dreaming", gibt dem Gefühl ungewohnter Einsamkeit eine abstrakte wie einnehmende Form. Zwischen entrückten Klavier-Anschlägen, synthetischer Schwerelosigkeit und Geister-Streichern verschwimmen die Strukturen und beziehen gerade aus dieser milchglasigen Unklarheit ihre Faszination.
Die großflächige Orchester-Front zu Beginn des Quasi-Titelstücks "The wave" könnte auch einen Terrence-Malick-Film begleiten, doch die Musik verliert sich hier nie in Pathos. Es ist im Gegenteil an Intensität kaum zu überbieten, wenn sich besagter Song mit überraschend dringlichem Rhythmus in einen unfassbaren instrumentalen Hochbetrieb hineinsteigert, über den Watsons Stimme wie ein Leuchtturm den Fixpunkt bildet. "Wave" beeindruckt mit seiner Dynamik, die Tracks knospen schon wundervoll, aber erblühen oft in der zweiten Hälfte erst so richtig. "Broken" beginnt wie eine gute alte Coldplay-Piano-Ballade und türmt sich mit dezenten Synthies zu einem Crescendo purer Euphorie auf. In "Turn out the lights" schmiegt sich Watsons Falsett an einen kuscheligen Teppich aus Neo-R'n'B, der beflügelt von benebelten Gitarren später zu fliegen anfängt. Nicht einmal das nervöse Zuckeln von "Wild flower" wirkt wie ein Fremdkörper, weil die bezaubernde Gastsängerin – die an dieser Stelle aufgrund fehlender Liner Notes leider nicht benannt werden kann – schnell zum Sedativum greift.
Laut Promotext habe Watson sein persönlichstes und intimstes Album bisher gemacht, was sich durchaus abnicken lässt. Frühere Werke mögen aufwändiger arrangiert gewesen sein, aber nicht nahbarer – wie der 40-Jährige seine privaten Dramen verarbeitet, braucht keine immerzu greifbare Form, um unmittelbar in den eigenen Blutkreislauf zu fließen. Diese Zugänglichkeit funktioniert, weil Watson nie selbst im Strudel versinkt, sondern immer wieder triumphierend auftaucht. Gerade das Schlussdrittel enthält mit "Look at you" und "Here comes the river" zwei seiner schönsten, wärmsten Songs, die das Album erfreulich optimistisch abrunden. Watson versucht, das Positive aus seinen Verlusten zu ziehen, fokussiert sich verstärkt auf sich und behält letztendlich den Kopf über Wasser. Ohne die Schwimmflügel irgendwann abzulegen, hat noch nie jemand das Schwimmen gelernt.
Highlights
- The wave
- Broken
- Look at you
- Here comes the river
Tracklist
- Dream for dreaming
- The wave
- Strange rain
- Melody noir
- Broken
- Turn out the lights
- Wild flower
- Look at you
- Drive
- Here comes the river
Gesamtspielzeit: 37:34 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Mic Postings: 394 Registriert seit 24.08.2019 |
2020-04-08 23:40:18 Uhr
Für Herrn Watson extrem schnörkerlos dieses Album. Bin überrascht. Und zwar sehr positiv. Es erinnert mich tatsächlich sehr oft an antony and the johnsons i am a bird now. |
Perfect Day Postings: 708 Registriert seit 18.01.2014 |
2019-11-19 07:50:24 Uhr
Ein unglaublich schönes, träumerisches Album. Bin immer wieder entzückt! Eine hohe 8/10! |
Pivo Postings: 1388 Registriert seit 29.05.2017 |
2019-10-21 08:48:01 Uhr
Nach meinem ersten Hördurchgang gestern hat das Album noch nicht ganz gezündet. Der Rahmen (erster Song und der Abschlusssong) ist zwar außerordentlich gelungen aber dazwischen ist noch deutlich Luft nach oben. Hier muss noch etwas wachsen bei den nächsten Durchläufen sonst wäre es "nur" eine 6/10. Ich habe aber noch gute Hoffnung und geben dem Werk noch mehrere Chancen. |
Kalle Postings: 435 Registriert seit 12.07.2019 |
2019-10-20 11:29:22 Uhr
Oh Mann, was für ein göttliches Album. In meinen Augen besser als die 3 Singles schon hoffen liessen. Wie geschaffen für den Herbst. |
Underground Postings: 1614 Registriert seit 11.03.2015 |
2019-10-18 10:22:48 Uhr
Es ist tatsächlich ganz, ganz toll geworden. |
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Referenzen
Sufjan Stevens; The Antlers; Bon Iver; Efterklang; Guillemots; S. Carey; Iron & Wine; Jeff Buckley; Antony & The Johnsons; Rufus Wainwright; Andrew Bird; Sigur Rós; Múm; The Cinematic Orchestra; Elbow; Other Lives; Coldplay; Arcade Fire; Get Well Soon; Ed Harcourt; Goldfrapp; Agnes Obel; James Vincent McMorrow; Leif Vollebekk; Half Moon Run; Gregory Alan Isakov; Nick Mulvey; Villagers; Daniel Rossen; Grizzly Bear; Beirut; Jens Lekman; The Tallest Man On Earth; Sondre Lerche; Kiran Leonard; The High Llamas; The Shins; The Divine Comedy; Fink; How To Dress Well; Radiohead
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