Marika Hackman - Any human friend
Caroline / Universal
VÖ: 09.08.2019
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
Let's talk about sex
Bekloppte Kunst-Prätention oder perfekte Visualisierung eines Albumkonzepts? Das Covermotiv von "Any human friend" ist als Hommage an die Ganzkörperporträts der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra gestaltet, die gerne auch Mutter und Kind kurz nach der Entbindung ablichtet – nur hält Marika Hackman, bekleidet mit Thermosocken und bequemer Unterhose, hier kein Baby, sondern ein süßes Schweinchen vor der nackten Brust. Was der kleine Grunzer genau zu bedeuten hat, wird zwar nicht ganz klar, aber diese leicht verschroben anmutende Entblößung passt zu Hackman als Songwriterin. Von ihrer Folk-Anfangszeit hatte sich schon "I'm not your man" mit kratzigen Gitarren und lautem Zynismus distanziert, das dritte Album geht inhaltlich noch einen Schritt weiter. Kaum eine andere aktuelle Indie-Pop-Künstlerin geht so direkt mit weiblicher und vor allem lesbischer Sexualität und Romantik um wie die mother of piglets.
Ironischerweise neigt sich das eröffnende "Wanderlust" aber wieder dem Debüt "We slept at last" zu: Hackman und ihre einsame Gitarre klingen hier so nah, als würde die Britin direkt vor einem sitzen. Dass ein Teil der Songs von "Any human friend" aufgrund von Schlaflosigkeit entstanden ist, hört man diesem Mitternachts-Folk noch an, allem Folgenden allerdings nicht mehr. "The one" überzeichnet das humorvolle Bild arroganter Rockstar-Hybris mit unverblümter Schnauze: "Love me more / Rub me 'till my ego is raw / I've got BDE", fordert das lyrische Ich, "You're such an attention whore!" entgegnet ihm der Griechische Chor. Die Elektrische bleibt ein prägendes Instrument, doch die Ästhetik verortet sich nun eher in den Achtzigern und erlaubt auch Synthies. Wenn Hackman in diesem poppigsten Stück ihrer Karriere "I'm not the one you want" singt, scheint sie sich aber dessen bewusst zu sein, dass sie mit ihrer Neuorientierung manche Fans vor den Kopf stoßen könnte.
Damit handhabt die 27-Jährige ihre neuen Einflüsse subtiler und doppelbödiger als beispielsweise die fast zeitgleich beim Pop anklopfenden Sleater-Kinney. Das äußert sich in der bereits angesprochenen textlichen Finesse gleichermaßen wie in der detailverliebten Produktion. Sinnlich und explizit erzählt "All night" von der körperlichen Liebe zweier Frauen, in seiner buchstäblichen Klimax driften die harmonischen Gitarren ins Dissonante. Kristalline Synthies und stoische Drums bilden in "Send my love" einen Kontrast zu Hackmans warmem Vortrag, der sich mit plötzlicher Stimmverzerrung selbst entmenschlicht. Besonders toll geraten auch das psychedelische "Conventional ride" das mit der Degradierung von gleichgeschlechtlichem Sex als "Experiment" abrechnet, sowie "Hand solo" – nicht nur der Songtitel des Jahres, sondern auch eine Masturbations-Hymne mit sechssaitiger Eleganz und bissigem Seitenhieb: "I gave it all / But under patriarchal law / I'm gonna die a virgin."
Neben all der Scharfzüngigkeit kommt aber auch das mittlere Wort im Albumtitel nicht zu kurz. Hinter der funkelnden Fassade des Retro-Pop-Hits "I'm not where you are" schlägt ein gebrochenes Herz, das geschmeidig rockende "Come undone" verbirgt Zweifel am eigenen Beziehungsleben. Die ätherische Streicher-Schwebe von "Hold on" kann seinen erschöpften Kollaps nicht verhindern: "I wanna be a newborn / Reprise of the child, I'm tired." Übrig bleibt das abschließende Titelstück, das seinem verzärtelten Arrangement die Luft zum Atmen gibt, die der Pop-Gestus des Vorhergegangen manchmal etwas erstickt hat. Das turmhohe Selbstbewusstsein weicht hier einer Zerbrechlichkeit, Schönheit und Empathie, eines war "Any human friend" aber sowieso schon von Anfang bis Ende: komplett blank. Wenn wir im Jahr 2019 wirklich noch sogenannte Sex-Ikonen brauchen sollten, dann bitte nur solche wie Marika Hackman.
Highlights
- All night
- Hand solo
- Conventional ride
- Any human friend
Tracklist
- Wanderlust
- The one
- All night
- Blow
- I'm not where you are
- Send my love
- Hand solo
- Conventional ride
- Come undone
- Hold on
- Any human friend
Gesamtspielzeit: 41:09 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Affengitarre User und News-Scout Postings: 11229 Registriert seit 23.07.2014 |
2021-02-27 10:54:39 Uhr
Läuft immer noch wunderbar durch und bleibt für mich auch klar ihr bestes Release, auch wenn die anderen beiden Alben (gerade das schöne Debüt) auch super sind. Großartiges Album. |
Unangemeldeter Postings: 1553 Registriert seit 15.06.2014 |
2019-12-15 13:51:10 Uhr
...die Zugabe habe ich absichtlich nicht spoilern wollen, fand die Idee und die Überraschung super witzig. :) |
Takenot.tk Postings: 2185 Registriert seit 13.06.2013 |
2019-12-13 20:06:41 Uhr
Schöne Zugabe auch mit dem Last Christmas / Santa Baby - Verschnitt.Ich kann mit der von ihr seit zwei Alben eingeschlagenen Musikrichtung zwar nicht annähernd soviel anfangen wie mit ihrem großartigen Debüt und den EPs davor, aber sie ist immer noch eine sehr talentierte Künstlerin mit einem Gespür für gutes Songwriting. |
Unangemeldeter Postings: 1553 Registriert seit 15.06.2014 |
2019-12-13 17:40:46 Uhr
Gestern ein super schönes Konzert in Berlin! Falls jemand gerade noch überlegt, ob er heute in Köln aufs Konzert gehen soll: zweifle nicht, es ist großartig!Ich hätte sehr gerne die Live-Version von Hand Solo auf Platte. Und das großartige Noise-Finish von Conventional Ride (dem einzigen Schwachpunkt auf der Platte für mich) auch. Super Konzertjahresabschluss in einem Jahr voller Highlights. Das Album ist bei mir definitiv auch in der Top-5 des Jahres. |
Marvin Plattentests.de-Mitarbeiter Postings: 67 Registriert seit 27.04.2018 |
2019-11-26 12:52:35 Uhr
Ich messe beim Bewerten aber nicht an "anderen Sachen" (höchstens an denen, die ich selbst bewertet hab, da sollte es schon kohärent sein).Ich kann aber sagen, dass es eine sehr sehr gute 7 war, was bei der vergleichsweise undifferenzierten Wertungsskala hier nicht rauskommt, und ich lange auch eine knappe 8 erwägt habe. Zumindest in meiner Top 25 dieses Jahr ist das Album auch. |
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Referenzen
Sharon Van Etten; Alice Phoebe Lou; Better Oblivion Community Center; Soak; Wolf Alice; Torres; Mitski; Julia Jacklin; Phoebe Bridgers; Cate Le Bon; Blondie; Sleater-Kinney; Warpaint; Bat For Lashes; Let's Eat Grandma; St. Vincent; Sky Ferreira; Lorde; Bombay Bicycle Club; Amber Arcades; The Decemberists; Phosphorescent; Lucy Rose; Rozi Plain; Everything Everything; Alt-J; Sivu; Wild Beasts; Yeasayer; The Japanese House; This Is The Kit; Laura Marling; Lump; The Staves; Daughter; Julie Byrne; Emily Jane White; Waxahatchee; Angel Olsen; Madeline; Miya Folick; Courtney Barnett; Girl Ray; New Order; The Beatles; The 1975
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