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Purple Mountains - Purple Mountains

Purple Mountains- Purple Mountains

Drag City / H'Art
VÖ: 12.07.2019

Unsere Bewertung: 9/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

David gegen Goliath

Teil 1: Vom Ende der Zufriedenheit [Prolog]

David Berman hätte als Persönlichkeit wohl noch größer sein können, wenn, ja, wenn er es denn nur gewollt hätte. Er könnte heute eine dieser lebenden Legenden sein, von denen immer mit ein bisschen Ehrfurcht in der Stimme gesprochen wird. Einer, bei dem immer aufgehorcht wird. Als Urvater von Irgendwas würde man ihn vielleicht bezeichnen, ein Held könnte er sein, ein Indie-Dino. Ein bisschen ist der 52-Jährige das zumindest dieser Tage, gefühlt aber auch nur, weil sein Comeback – bei aller Hochachtung vor seinem Talent als Musiker und Songschreiber – fast schon unglaublich toll ist. Aber dazu gleich mehr.

Mit Silver Jews, die ja immerhin Indie-Kultstatus genießen, veröffentlichte Berman 1994 sein erstes Album, 14 Jahre später sein letztes. Nach "Lookout mountain, lookout sea" sollte Schluss sein mit der Band, Berman ließ damals verlauten, man habe sich getrennt, bevor man schlecht werden könne. Mittlerweile gibt er zu, dass er keinen Bock mehr auf das Rampenlicht hatte, auf die Fans, auf deren Erwartungshaltung, dass er sich ein kleines Geheimnis bewahren wollte. Zudem hatte der Mann ernsthafte Probleme mit seiner Drogensucht und seiner mentalen Verfassung, was 2003 zu einem Selbstmordversuch führte. Insofern: Ja, Berman hätte möglicherweise ein echter Rockstar sein können. Aber er wollte es einfacher haben. Nach einem letzten Auftritt und der ihn spürbar befreienden Bekanntgabe, dass sein Vater der Lobbyist Richard Berman ist – er beendete sein Statement mit den Worten "I am the son of a demon come to make good the damage" – , zog er sich zurück. Eines seiner wenigen musikalischen Lebenszeichen war ein Gastauftritt auf "Wildflower", dem zweiten Album von The Avalanches. Das nächste dieser musikalischen Lebenszeichen steht nun in den Startlöchern, und es ist nicht nur ein Aufflackern, sondern eine Erscheinung. Ein regelrechter Paukenschlag.

Teil 2: Vom Kampf gegen die Traurigkeit

Den härtesten Kampf, das wird in der Vorberichterstattung zu Bermans Rückkehr in die Musikwelt klar, führt er nach wie vor gegen sich selbst, gegen seine Angstzustände, gegen all das, was ein Leben in der Öffentlichkeit mit sich bringt. Mit "Purple Mountains", dem neuen Album seines neuen Projekts, ficht er diese Schlacht auf offener Bühne für alle einsehbar aus. Viel hat sich getan seit damals, als er Silver Jews eigenhändig in den Ruhestand schickte. Die Trennung von seiner Frau Cassie, die ihn einst fand und ihm das Leben rettete, als er sich mit Crack und Kokain eine Überdosis verabreichte, ist nur eine weitreichende Änderung in Bermans Leben, und natürlich verarbeitet er sie auf dem Album, das auch als eine Art Audiobiografie durchgehen könnte: "Well, I don't like talking to myself / But someone's gotta say it, hell / I mean, things have not been going well / This time I think I finally fucked myself" sind nur die ersten Worte auf "Purple Mountains", eine Zusammenfassung seiner letzten Jahre und seines Geisteszustands im Opener "That's just the way that I feel".

Dass die Instrumentierung des Stücks dabei wirkt, als würde Berman eine kleine Südstaaten-Barbecue-Gartenfete veranstalten, bei der alle zu unfassbar traurigen Worten unfassbar ausgelassen tanzen, wirkt anfangs befremdlich, passt aber zur Grundstimmung des Albums, die auch in der Leadsingle "All my happiness is gone" zu Tage tritt. Wer hier so etwas wie Ironie oder Zynismus vermutet, irrt sich: Berman steht ganz offen zu seiner Depression und dazu, dass er sein Glück, wenn vorhanden, nie lange greifen und halten kann. Aber das heißt ja nicht, dass man sich dazu nicht bewegen kann. Crying at the discotheque? Nein, das wäre zu simpel, zu plump. "Purple Mountains" ist ein Album voller Traurigkeit, das nicht traurig machen will. Berman kämpft und lässt sich dabei anfeuern, so auch in "I loved being my mother's son", dem Song, den er als Purple Mountains schrieb, noch bevor es Purple Mountains gab, direkt nach dem Tod seiner Mutter. Es ist ein Stück, das stets zwischen Liebe und Trauer wandelt, zwischen Respekt vor dem geliebten, verlorenen Menschen und der Wut auf das Leben und seine Umwelt. Und doch ist es ein Trost, ihm hier zuzuhören, wie er nicht einfach nur von seinen Gefühlen singt, sondern ebenso von denen seiner Mutter: "She helped me walk, she watched me run / She got where I was coming from / And when I couldn't count my friends on a single thumb / I loved her to the maximum."

Teil 3: Vom (vorläufigen) Sieg gegen die Einsamkeit [Epilog]

Make no mistake: So sehr "Purple Mountains" auch so etwas wie ein öffentliches Tagebuch des Künstlers ist, so sehr ist es auch eine Stütze für ihn, der seinen eigenen Worten zufolge keiner Religion folgt und seinen Frieden im Musizieren zu finden versucht. "Darkness and cold" spielt mit den hellen und dunklen Tönen des eigenen Lebens, es ist ein sich wiederholendes Thema, was besonders in Anbetracht der Zeile "The light of my life is going out tonight" für Stirnfalten sorgt, während das schwermütige "Nights that won't happen" nicht unbedingt viel Spielraum für Interpretation lässt: "When the dying's finally done and the suffering subsides / All the suffering gets done by the ones we leave behind", singt Berman da, aus einem Plätzchen der Erfahrenheit kommend, wissend, noch spürend. "Snow is falling in Manhattan" hingegen ist eine einzige, gigantische Metapher, eine Reise durch New York, eine Geschichte über Freundschaft, Geister inklusive, und irgendwie auch ein bisschen Klimawandel. Es muss ja nicht alles bis zum Erbrechen analysiert werden, und das große Highlight hier ist, wie so oft auf "Purple Mountains", die liebevolle, große, satte Instrumentierung, die mit jeder weiteren Sekunde einlullender und wärmer wird, bis selbst der kälteste Schneesturm vergessen ist.

Das letzte Highlight auf diesem Album ohne Lowlights begegnet dem Hörer kurz vor Schluss in Form des wunderbar poppigen "Storyline fever", sowohl in musikalischer als auch inhaltlicher Hinsicht. Es ist eine kleine Verschnaufpause, Berman lässt sich im Zuge seiner Therapie treiben, hängt sich an guten Gedanken fest und spinnt sie solange weiter, wie er nur kann. "You got storyline fever, storyline flu / It's filtering how everything looks to you / Don't you reckon it's affecting your attitude? / Storyline fever got its hooks in you", spricht er da, mal zu demjenigen, der ihm gerade zuhört, wohl aber auch zu sich selbst. Es ist eine willkommene Abwechslung, bis "Maybe I'm the only one for me" mit neckischen Country-Anleihen einen brutal ehrlichen, aber auch mit sich im Reinen scheinenden Abschluss bietet. Ja, David Berman hätte noch größer sein können, eine Legende, ein Urvater. Und doch ist er ein Held, als Everyman, der sich seinen größten Dämonen gestellt hat, alle Augen auf sich gerichtet, und sie besiegt hat. Zumindest dieses Mal, aber das dafür ganz sicher. Wir wünschen ihm bei allen kommenden Kämpfen, den großen und kleinen, alles Glück der Welt.

(Jennifer Depner)

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Highlights

  • All my happiness is gone
  • Darkness and cold
  • Nights that won't happen
  • Storyline fever

Tracklist

  1. That's just the way that I feel
  2. All my happiness is gone
  3. Darkness and cold
  4. Snow is falling in Manhattan
  5. Drinking margaritas at the mall
  6. She's making friends, I'm turning stranger
  7. I loved being my mother's son
  8. Nights that won't happen
  9. Storyline fever
  10. Maybe I'm the only one for me

Gesamtspielzeit: 44:32 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

kusubi

Postings: 867

Registriert seit 17.12.2019

2024-03-06 19:49:09 Uhr
Tolles Album. Auch die silver jews lohnen mit jedem Album.

Was für ein Musiker und vor allem Texter. Kenne nichts vergleichbares. Höre das Album nicht oft, aber es wird mit jedem mal besser.

Gomes21

Postings: 4868

Registriert seit 20.06.2013

2020-12-21 14:38:19 Uhr
Ein Album zum Traurigsein, ich finde es aus Abstand auch eher noch besser als zu Beginn und da hat es mir schon sehr gefallen.

Gomes21

Postings: 4868

Registriert seit 20.06.2013

2020-12-21 14:36:51 Uhr
Schönes Cover von Chilly Gonzales / Jarvis Cocker / Feist zu Snow is Falling in Manhatten:

https://www.youtube.com/watch?v=17u_0mLekkU

oldschool

Postings: 591

Registriert seit 27.04.2015

2020-06-11 11:21:35 Uhr
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich das Album Anfangs unteerschätzte. Ich dachte "jooo, ganz okay", aber nun nichts besonderes. Dannach ist das Album aber unglaublich gewachsen! Es sind plötzlich Nuancen, die mir auffallen und ich liebe. Das entspannte Gitarrenspiel bei "Storyline Fever" oder das Schlagzeugspiel bei "all my happiness".
Und nach dem Tode von Berman wirkt das Album auch anders als zuvor. Es ist mir nicht mehr möglich, das Album mit einer emotionalen Distanz zu hören oder seinen Selbstmord auszublenden.
"Purple Mountains ist ein Album voller Traurigkeit, das nicht traurig machen will" trifft nun nicht mehr zu.

Jennifer

Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion

Postings: 4711

Registriert seit 14.05.2013

2020-05-12 21:02:51 Uhr
Wunderbares Album nach wie vor. Höre es immer noch sehr gern und bin immer noch sehr traurig wegen Berman.
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