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Jesca Hoop - Stonechild

Jesca Hoop- Stonechild

Memphis Industries / Indigo
VÖ: 05.07.2019

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 9/10

Es bröckelt

Wie diffus das Verhältnis mancher Frauen zur eigenen Mutterschaft sein kann, wie sie ihr Kind als "Bereicherung" und "Verstümmelung" gleichzeitig empfinden können, wusste Simone De Beauvoir schon 1949. Jesca Hoop steht mit ihrem 70 Jahre später erscheinenden Album "Stonechild" ganz in der Tradition der feministischen Vordenkerin. Schon der Titel nimmt Bezug auf das schauerliche Phänomen des Lithopädion: Ein toter, durch Kalk versteinerter Fötus, der unbemerkt über Jahrzehnte im Mutterleib verharren kann. "Old fear of father" dekonstruiert das verklärte Ideal der Mutterliebe am deutlichsten: "I love my boys more than I love my girl / Try not to show it, she knows like I knew", heißt es da und später: "Don't look to me for sweetness". Vergiftet von Verbitterung und gesellschaftlich induzierten Rivalitätsgedanken erhärtet sich die Erzählerin vor ihrer eigenen Tochter. Wer in spärlicher Akustikmusik in erster Linie nach Trost und Wärme sucht, läuft hier erst einmal kalt auf.

Für ihr fünftes Studioalbum hat Hoop zum ersten Mal die Wahlheimat auch zum Arbeitsort gemacht und es gemeinsam mit PJ-Harvey-Kollaborateur John Parish in Manchester aufgenommen. Ihre Nähe zu britischer Folk-Tradition bildet sie damit konkret geografisch ab, auch wenn "Free of the feeling" zu Beginn eher amerikanische Landschaftsbilder malt. Auch mit seiner üppigen Instrumentierung hebt er sich vom sonst oft aufs Nötigste reduzierten Rest ab, ist aber gerade deshalb ein unheimlich treibender, phänomenaler Opener mit stoischem Beat, subtiler Elektronik und entrückten Gesangs-Harmonien. Immerhin sein Mantra kann "Stonechild" perfekt als Ganzes repräsentieren: "We go look for dark". So aufbrausend wie das Eröffnungsstück gerät sonst nur das ebenfalls grandiose "Footfall to the path", das Hoops Klagen mit Bläsern und dringlicher Zither begleitet. Spätestens, wenn eine einnehmende Stromgitarre durch den Song schneidet, wird auch Parishs Einfluss deutlich hörbar.

Die Musik der 44-Jährigen durchzieht ein dichter Nebel der Mystik, ihre Melodien winden sich in unerwartete Richtungen und auch die komplexen Texte lassen sich oft kaum fassen. "Death row" täuscht eine Zartheit in der Form vor, die seine assoziative Tötungslyrik nicht weiterführen kann: "May you have a good death, a very good death." In "01 tear" drückt das verzweifelte Ich seinem Gegenüber einen Pfeil und einen goldenen Apfel in die Hand und bittet ihn um Lebensrat. Motive von Gefangenschaft und entbehrungsreicher Befreiung durchziehen den pulsierenden Minimal-Folk von "Red white and black" ebenso wie den zerfallenden Schlusstrack "Time capsule". Gegen Ende wird das Quasi-Titelstück "Passage's end" eines der eindrücklichsten metaphorischen Bilder zeichnen und seine Protagonistin ihr eigenes "Stonechild" in die Tiefen der See gebären lassen. Erlösung oder Grausamkeit? Die Frage beantwortet der Song in seiner psychedelisch-optimistischen Schwebe schon selbst.

Der Rock ist fast gänzlich aus Hoops Schaffen verschwunden, was die Faszination dahinter aber nur verstärkt. "Aus der Zeit gefallen" ist gar kein Ausdruck dafür, wie das mit sich selbst tanzende "All time low" gar Renaissance-Musik evoziert. Auch "Outside of Eden", ein zauberhaftes Folk-Duett mit Kate Stables alias This Is The Kit, könnte schon ein paar Jahrhunderte alt sein, würde es darin nicht um eine virtuelle "girlfriend experience" gehen. Den beeindruckendsten Brückenschlag zwischen Gegenwart und Vergangenheit schafft "Shoulder charge": Der Song erinnert an moderne Indie-Bands wie Grizzly Bear oder – vor allem in der fantastischen Klimax – Elbow und macht sich mit anachronistischen Sprachbildern an die Bewältigung eines nicht näher bestimmten Traumas. Was sich daraus entspinnt, ist nicht noch mehr Verfall oder vor den Abgrund gestellter Mutter-Mythos, sondern eine pure Hymne der Empathie: "Nothing one can go through / Has not been shared by two." Es ist eben doch nicht alles aus Stein.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights

  • Free of the feeling (feat. Lucius)
  • Shoulder charge (feat. Lucius)
  • Footfall to the path
  • Passage's end

Tracklist

  1. Free of the feeling (feat. Lucius)
  2. Shoulder charge (feat. Lucius)
  3. Old fear of father
  4. Footfall to the path
  5. Death row
  6. Red white and black
  7. 01 tear
  8. All time low
  9. Outside of Eden (feat. Kate Stables & Justis)
  10. Passage's end
  11. Time capsule

Gesamtspielzeit: 44:20 min.

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Registriert seit 15.06.2014

2020-04-22 10:33:21 Uhr
Heute früh kam von dieser Platte "Red White and Black" im Radio und hat mir direkt extrem gut gefallen. Ein Hoch auf Radio Eins. Davor noch nie von Jesca Hoop gehört, die Rezension hier ist aber sehr schön geschrieben und macht mir richtig Lust auf den Rest des Albums. Danke dafür.
Dass Red White and Black nicht mal als Highlight gelistet ist, ist schon ein Pfund.

Armin

Plattentests.de-Chef

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Registriert seit 08.01.2012

2019-07-20 22:34:26 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

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