Billie Eilish - When we all fall asleep, where do we go?

Interscope / Universal
VÖ: 29.03.2019
Unsere Bewertung: 6/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

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Billie Eilish ist eine obskure, eigensinnige Künstlerin und gleichzeitig der größte Teen-Pop-Star der Welt. Seit ihrem mit gerade einmal 14 Jahren veröffentlichten Hit "Ocean eyes" entwickelte sie sich in kürzester Zeit zur Ikone einer Generation mit weltweit ausverkauften Shows und 15 Millionen Instagram-Followern. Und das, obwohl sich die mittlerweile 17-Jährige kaum fassen oder in irgendwelche Trends einordnen lässt – weder musikalisch, noch in der Horror-Ästhetik ihrer Videos, in denen sie etwa wenig Berührungsängste mit ihrem Lieblingstier, der Spinne, zeigt. Ihr Debüt "When we all fall asleep, where do we go?" ist dementsprechend ein Großereignis mit den erwartbaren Reaktionen von Hype und Anti-Hype: Die einen, größtenteils jüngeren, huldigen ihrer Teenage-Angst-Schutzpatronin noch mehr, während die anderen diesen billigen Hybrid aus Lorde, Lana Del Rey und Lo-Fi-Gothic natürlich schon von Anfang an durchschaut haben. Und Eilish selbst? Die nimmt sich im Intro erst mal unter Schmatzgeräuschen die Zahnspange raus und lacht sich mit ihrem Produzentenbruder Finneas O'Connell einen Ast ab.
Wenn dieses Album in irgendeiner Form die Absicht hätte, ein klareres Bild seiner Künstlerin zu zeichnen, müsste man zunächst sein grandioses Scheitern daran feststellen. Eilish hat hörbaren Spaß am Eröffnungs-Banger "Bad guy", summt die Bassmelodie mit und lässt den clubtauglichen Electro-Beat zugunsten eines Trap-Bruchs im letzten Akt kippen – doch stellt sie mit ihrer Lolita-esken Selbstinszenierung ihr bisheriges Image auch gehörig auf den Kopf. Mit "Xanny" folgt eine dreiteilige Suite aus ätherischem Gesangs-Intro, verstörender Bass-Verzerrung und einem unerwartet groß angelegten Piano-Finale. Die Fragezeichen weichen hier allerdings schnell Begeisterung, vor allem, weil die Kalifornierin mit ihrem Text über das gefährlich kultivierte Medikament zeigt, dass ihr Status durchaus Berechtigung hat. Eilish nimmt die Ängste und mentalen Probleme ihrer Generation ernst und kommt selbstreflexiv ihrer Vorbildfunktion nach.
Da sie hier aber keine zwei Songs lang dieselbe Schiene fährt, ist mit der Ernsthaftigkeit auch schnell wieder Schluss. "You should see me in a crown" wetzt zu Beginn wortwörtlich die Messer und baut seinen explosiven Refrain um einen verkappten Dubstep-Drop. Das hier zur Schau gestellte Selbstbewusstsein transferiert sich in wilde musikalische Ambitionen, vom klimpernden G-Funk "All the good girls go to hell" über den zuckrigen Ukulelen-Indie von "8" bis zu "My strange addiction" – am ehesten der Song, der sich auch anderen Popstars zuschreiben lassen könnte, auch wenn diese wahrscheinlich keine Dialoge aus "The Office" darin gesamplet hätten. In der minimalistischen, betörend schönen Ballade "When the party's over" bekommt Eilishs Stimme derweil ihren größten Auftritt, gerät schon fast unheimlich in ihrer Intimität. "Wish you were gay" hätte eine ähnliche Wirkung erzielen können, sein latent dämlicher Text – Eilish wünscht sich, dass ihr Crush schwul wäre, weil sie dessen Abweisung dann besser ertrüge – versalzt die Suppe allerdings etwas.
Nach dem großartig triphoppigen "Bury a friend" und der Electropop-Serpentine "Ilomilo" findet das Album in seinem melancholischen Schlussakt plötzlich doch zur Homogenität. Das ums Thema Suizid kreisende Klavierstück "Listen before I go" liegt noch schwer im Magen, bis die pure, akustische Grazie von "I love you" kurzzeitig die Schwerkraft außer Kraft setzt – bei all dem Eklektizismus lässt sich dessen Nähe zu "Hallelujah" als ästhetisch kohärentes Popkultur-Zitat auch locker abnicken. Ob Eilish ganz am Ende doch einen transparenten Blick auf ihr tatsächliches Ich zulässt oder sie nur einen weiteren Faden in ihrem in alle Richtungen schießenden Netz spinnt, bleibt, wie so vieles, unklar. "When we all fall asleep, where do we go?" ist ein Album, das einen nicht nur hypnotisiert, unterhält und mitnimmt, sondern auch ganz schön ratlos zurücklässt.
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Highlights
- Xanny
- When the party's over
- Bury a friend
- I love you
Tracklist
- !!!!!!!
- Bad guy
- Xanny
- You should see me in a crown
- All the good girls go to hell
- Wish you were gay
- When the party's over
- 8
- My strange addiction
- Bury a friend
- Ilomilo
- Listen before I go
- I love you
- Goodbye
Gesamtspielzeit: 42:48 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Klaus Postings: 2519 Registriert seit 22.08.2019 |
2020-06-11 16:52:01 Uhr
Hatte ich auch erst überlegt, aber dafür ist es mir noch zu "jung".Ansonsten übrigens: https://www.zeit.de/zeit-magazin/2020/25/billie-eilish-bodyshaming-kurzfilm-gesellschaftskritik Der Text ist so mittel, habe auf die schnelle nichts anderes gefunden. |
Edrol Postings: 207 Registriert seit 19.10.2018 |
2020-06-11 16:50:04 Uhr
Alle 3 Wertungen kann ich so unterschreiben. Wobei man bei der zweiten Wertung vielleicht sogar über die volle 10 nachdenken könnte. |
Klaus Postings: 2519 Registriert seit 22.08.2019 |
2020-06-11 16:39:26 Uhr
Hatte mich ja in meiner "Hype-Pop" Ablehnung auch erst ferngehalten, denn wann hört man schonmal edgy Alben von Jugendlichen wenn man nicht selbst jugendlich ist. Mittlerweile: Musikalische Qualität 7,5/10 Popkultureller Impact: 9,5/10 You should see me in a crown: 10/10. |
The MACHINA of God User und Moderator Postings: 24772 Registriert seit 07.06.2013 |
2020-06-02 15:15:46 Uhr
MACHINA wird ihn aber eher als Beispiel dafür gemeint haben, dass auch Künstler*innen mit für manche irritierenden Stilmixen musikgeschichtliche Anerkennung erfahren können. Exakt. Hatte ich ja sogar zitiert. |
MopedTobias (Marvin) Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion Postings: 16560 Registriert seit 10.09.2013 |
2020-06-01 12:48:38 Uhr
Eben, das ist ja erst das Debüt. Hier würde sie den Vergleich mit Bowie sogar gewinnen :D (was natürlich keine Kunst ist, gegen Bowies 67er-self-titled würden sehr, sehr, SEHR viele Debüt-Alben gewinnen) |
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Referenzen
Zola Jesus; Lorde; Lykke Li; Lana Del Rey; Cold Specks; The xx; Bat For Lashes; Gazelle Twin; Soap & Skin; Dillon; Warpaint; CocoRosie; Coals; Massive Attack; Tricky; Banks; Kacy Hill; Låpsley; Aurora; Sigrid; Florence & The Machine; Sky Ferreira; Halsey; Melanie Martinez; Marina; Birdy; Lil Peep; Lil Pump; Lil Xan; Post Malone; Tyler, The Creator; Earl Sweatshirt; Troye Sivan; Hayley Kiyoko; The 1975
Surftipps
- https://www.billieeilish.com/
- https://www.interscope.com/artists/billie-eilish
- https://www.universal-music.de/billie-eilish
- https://de.wikipedia.org/wiki/Billie_Eilish
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- https://www.allmusic.com/artist/billie-eilish-mn0003475903
- https://www.laut.de/Billie-Eilish
- https://pitchfork.com/artists/billie-eilish/
- https://musicbrainz.org/artist/f4abc0b5-3f7a-4eff-8f78-ac078 dbce533
- https://rateyourmusic.com/artist/billie-eilish
- https://www.nme.com/big-read-billie-eilish-interview-nme-100 -2019
- https://www.thefader.com/2019/03/05/billie-eilish-cover-stor y
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