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Radiohead - Hail to the thief

Radiohead- Hail to the thief

Parlophone / EMI
VÖ: 10.06.2003

Unsere Bewertung: 9/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

The real world

Im Schnippchenschlagen sind Radiohead schon seit längerem wahre Meister. Was sie allein im orwellschen Opener "2+2=5" vorwegnehmen, ist schon eine ausgemachte Schelmerei: den Traum, die Verzweiflung, den Zynismus, die Unruhe, den Ausbruch, den Sarkasmus. Alles dabei in nicht ganz dreieinhalb Minuten. Und das Beste an diesem fulminanten Parforce-Ritt: Er bringt die angesengten Gitarren zurück. Welch Wiederhörensfreude! "I try to sing along / I get it all wrong," gesteht ein angespannter Thom Yorke und wird nicht einmal rot beim Lügen. Denn bei "Hail to the thief" fällt einem nicht nur das Mitsingen leichter als beim irrlichternden Doppelpack von "Kid A" und "Amnesiac".

Schon der intellektuelle Überbau wird deutlicher sichtbar. Da wäre zum Beispiel der fast schon dialektische Umgang mit dem eigenen Liedgut. Nicht ein, nein, gleich zwei verschiedene Titel haben Album und Tracks. Das ausgiebig durchleuchtete "Hail to the thief", das sich eben doch nicht mit dem Nichtgewählten im Weißen Haus befaßt, bekommt "The gloaming" als Partnertitel hinzugesellt. Und auch die einzelnen Tracks entblößen immer wieder ihr Alter Ego. Ja, Radiohead schlagen einmal mehr mit Vorliebe Haken, es wartet die fröhliche Psychoanalyse. Außerdem diesmal im Angebot: "These lyrics may contain certain words that some people may find offensive." You know who you are.

Dabei geht doch schon die Musik in die Offensive. All das Spezielle, was Radiohead zur vielleicht faszinierendsten Band macht, die dieser Planet zu bieten hat, wird in einer schillernden Wunderkugel vermengt: die monolithische Sperrigkeit von "Kid A", die pastorale Überhöhung von "OK computer", der rockistische Überschwang von "The bends", der sanfte Trost von "Amnesiac". Wir finden auf Tränen gleitende Hymnen wie "Sail to the moon" oder unterkühlt mosernde Grooves in "A punchup at a wedding". Wir lassen uns von sakralen Beteuerungen wie "I will", im doppelten Wortsinn bissigen Epen wie "We suck young blood", der schwelgenden Lakonie von "A wolf at the door" oder nervös federnden Abgesängen wie "Where I end and you begin" faszinieren. Wir schütteln und kratzen uns mit "Myxomatosis", geben uns in "Sit down, stand up" der Schizophrenie anheim und sterben bei "Scatterbrain" vor lauter Schönheit. Wo sich andere in der eigenen Vielschichtigkeit furchtbar verheddern würden, beherrscht das Genie der Oxforder das vermeintliche Chaos.

Über allem schwebt Yorkes Stimme wie ein wachender Geist. Der jedoch weiß selber nicht, ob er zur Hilfe eilen soll oder selbst Hilfe benötigt. "Help me, call the doctor." Doch auch der verspricht keine Rettung. "We are accidents / Waiting / Waiting to happen." Yorke hofft auf bessere Launen, auf bessere Zeiten, auf bessere Menschen. "Maybe you'll be president / But know right from wrong." Ein frommer Wunsch für das eigene Kind? Oder eher subtiler Molotov-Cocktail für die Pennsylvania Avenue? Da ist sie wieder, die Zerrissenheit. Doch wo sie bei "Kid A" noch abschreckte und verstörte, wirkt sie auf "Hail to the thief" seltsam vertraut, gar anheimelnd. "I can watch but not take part." Außenseiter aller Länder, vereinigt Euch!

Wenn es eine Vokabel gibt, die man "Hail to the thief" ungestraft ankleben kann, dürfte es "handfest" sein. All die knisternden Schaltkreise, die zündelnden Gitarrenbreitseiten, die lässigen Wanderungen auf dem Klavier - sie stehen ganz im Dienste des, jawohl, Songs. Wer glaubte, sich in Yorkes Hirnwindungen verirrt zu haben, wird an der Hand genommen und auf den (immerhin noch doppelten) Boden der Tatsachen zurückgeführt. "Meet the real world coming out of my shell," singflüstert es in "I will". Und schon halten wir den Schlüssel zu Radioheads sechstem Album in den zittrigen Händen: Hier haben sich fünf Engländer nach ihrer beeindruckenden Entdeckungsreise wiedergefunden. Nicht auf verdrehten Nervenbahnen und nicht auf den Sofas ihrer Psychotherapeuten. Sondern in der realen Welt. Im Proberaum. Vor rauschenden Verstärkern. Vor scheppernden Becken. Vor unruhig flackernden Laptop-Bildschirmen. Und doch muß Thom, der alte Zweifler, eben noch eine letzte E-Mail rausschicken: "Just because you feel it / Doesn't mean it's there." Aber man muß ihm ja nicht alles abkaufen.

(Oliver Ding)

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Highlights

  • 2+2=5
  • Sit down, stand up
  • There there
  • Myxomatosis
  • Scatterbrain

Tracklist

  1. 2+2=5
  2. Sit down, stand up
  3. Sail to the moon
  4. Backdrifts
  5. Go to sleep
  6. Where I end and you begin
  7. We suck young blood
  8. The gloaming
  9. There there
  10. I will
  11. A punchup at a wedding
  12. Myxomatosis
  13. Scatterbrain
  14. A wolf at the door

Gesamtspielzeit: 56:37 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

nagolny

Postings: 1090

Registriert seit 06.11.2022

2023-05-18 14:03:50 Uhr
9/10 passt.

nagolny

Postings: 1090

Registriert seit 06.11.2022

2023-04-14 14:44:10 Uhr
... oder auch bloß langweilen.

nagolny

Postings: 1090

Registriert seit 06.11.2022

2023-04-14 14:43:43 Uhr
There there, Punch up, Young blood, Myxomatosis sind die Ohrwürmer aus meiner Hörperspektive. Aber das Album als solches hat einfach auch seinen besonderen Zauber und Fluss. Darin gibt es keinen Song, der mich nerven würde.

edegeiler

Postings: 2914

Registriert seit 02.04.2014

2023-04-14 08:33:52 Uhr
Das Ding habe ich mir in meiner Radiohead Phase gekauft und wollte es ganz dringend ganz toll finden. Heute sind mir eigentlich nur noch "Sit Down, Stand Up", "Sail to the Moon", "Where I End..." "There There" und "Myxomatosis" als gute Songs in Erinnerung.

Christopher

Plattentests.de-Mitarbeiter

Postings: 3576

Registriert seit 12.12.2013

2023-04-14 05:22:30 Uhr
Hab das neulich mal angeheitert mit nem Freund gehört, davor ewig nicht. Finde es auch immer noch super, Einzige schwächere Tracks sind für mich "A punchup at a wedding" und "We suck young blood". Ansonsten ein tolles Album, in der Summe immer noch ne 9/10 für mich.
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