Matmos - Plastic anniversary

Thrill Jockey / Rough Trade
VÖ: 15.03.2019
Unsere Bewertung: 6/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Kunst und Stoff
Weil die letzte Matmos-Rezension auf Plattentests.de schon eine Weile her ist und der dort besprochene Synthie-Traditionalismus von "Supreme balloon" möglicherweise ein falsches Bild vermittelt, hier zunächst die Erinnerung: Auch in der aktuellen Dekade bilden Drew Daniel und M.C. Schmidt noch immer die bekloppteste amerikanische Band. Nachdem sie zuvor ein Album per Gedankenübertragung und ein anderes nur mit einer Waschmaschine aufgenommen haben, posiert das seit 25 Jahren gemeinsam musizierende Liebespaar nun küssend hinter einem Polizeischild oder in Klarsichtfolie eingewickelt. Matmos feiern ihr Jubiläum und nutzen dafür aus irgendeinem Grund ausschließlich von und mit Plastik erzeugte Klänge und Samples – ein "Plastic anniversary" eben. Wo andere mit dieser Prämisse nur ein bisschen auf Kunststoff trommeln würden, matscht das Duo standesgemäß in synthetischem Fett rum und entlockt so etwas ähnliches wie Musik aus Brustimplantaten, Pokerchips, Gymnastikbällen, DNA-Tests oder Klobürsten. Den eigenen Schädelinhalt möchte man nach diesen 40 Minuten dann auch einfach nur in die nächste gelbe Tonne kippen.
Es bleibt müßig, über die Motivation oder das Konzept der Band nachzudenken – ein Blick auf Daniels Biographie, der als Dozent in Baltimore bereits zwei Bücher, eins über die englische Renaissance, das andere über die Industrial-Pioniere Throbbing Gristle, publizierte, legt auch schlicht einen Dauerzustand der intellektuellen Unterforderung nahe. Matmos machen Musik nicht um des letztendlichen Produkts willen, sondern aus einer nicht näher bestimmbaren Freude an unkonventionellen Klangkörpern und selbstauferlegten Regeln im Aufnahmeprozess heraus. Zum Glück wissen sie aber nach wie vor, dass jede noch so avantgardistische Idee nichts bringt, solange der Hörer nicht genauso viel Spaß dabei hat wie die beiden verrückten Plastik-Zauberer. So quietscht sich der sehr wörtlich nehmende Opener "Breaking Bread" etwa aus zerbrochenen Vinyl-Platten der 70er-Softrock-Band Bread einen überraschend melodiösen Groove zusammen. Auch "Silicone gel implant" entwickelt eine merkwürdige Sogwirkung, die seine Plastikflöten und den aus einem Brustimplantat erzeugten Bass zur Nebenanekdote degradiert. "Plastic anniversary" ist immer dann am besten, wenn das Konzept hinter der Musik verschwindet.
Solche Momente finden sich in der ersten Hälfte zuhauf, gerade "The crying pill" und der Titelsong geraten zu grandios vielschichtigen Electro-Tracks zwischen Ambient, 80er-Pop und perkussivem Fiebertraum. Seinen Gaga-Humor hat das Duo auch nicht verloren, immerhin haben sie ein zehnsekündiges, aus Salatschüsseln aufgenommenes Interlude zum Exoplaneten GJ237b schicken lassen. Während das Lesen der Liner Notes, die all die obskuren Einfälle und unmöglichen "Instrumente" auflisten, durchweg Spaß macht, retten die synthetischen Gimmicks das Album aber nicht immer vor der musikalischen Redundanz, vor allem auf der weniger verspielten zweiten Seite. Vielleicht soll der dunklere Ton hier aber auch nur auf die schweren Brocken am Ende vorbereiten, wenn Daniel und Schmidt das "vierte Königreich" – damit ist Plastik als ebenbürtige Instanz zu Tieren, Pflanzen und Mineralien gemeint – plötzlich nicht mehr feiern, sondern zu Grabe tragen. Wortwörtlich, denn in "Plastisphere" musizieren sie auch auf einer Krankenbahre und formen eine erschreckend echt klingende Kunststoff-Mimikry falscher Naturaufnahmen. Ein wortloser, in mehrere Richtungen deutbarer Gesellschaftskommentar und nach 25 Jahren Bandgeschichte die entsetzliche Erkenntnis: Matmos meinen das alles todernst.
Highlights
- The crying pill
- Silicone gel implant
- Plastic anniversary
Tracklist
- Breaking bread
- The crying pill
- Interior with billard balls and synthetic fat
- Extending the plastisphere to GJ237b
- Silicone gel implant
- Plastic anniversary
- Thermoplastic riot shield
- Fanfare for polyethylene waste containers
- The sining tube
- Collapse of the fourth kingdom
- Plastisphere
Gesamtspielzeit: 40:17 min.
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humbert humbert Postings: 2467 Registriert seit 13.06.2013 |
2019-03-24 03:41:00 Uhr
Tolles Album mal wieder von Matmos. Kann ich nur empfehlen. |
keenan Postings: 5314 Registriert seit 14.06.2013 |
2019-03-12 16:22:39 Uhr
matmos, geiler song von amplifier :-D |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27973 Registriert seit 08.01.2012 |
2019-03-07 20:32:46 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.Meinungen? |
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Referenzen
The Soft Pink Truth; The Books; Herbert; Four Tet; Fennesz; Hood; Cornelius; Styrofoam; Mouse On Mars; Aphex Twin; Autechre; Squarepusher; Holly Herndon; Wauvenfold; Kid 606; Björk; Scott Walker; Jason Forrest; Actress; Oneothrix Point Never; Dan Deacon; To Rococo Rot; Pole; Oval; Pram; Pan Sonic; Arovane; Bell Orchestre; Tied & Tickled Trio; Mr. Scruff; Tipsy; Radiohead; Jonny Greenwood; Brian Eno; Xiu Xiu
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