John Coltrane - Both directions at once: The lost album (Deluxe edition)
Impulse! / Universal
VÖ: 29.06.2018
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
A lost supreme
Mit dem Wort "Sensation" muss man vorsichtig umgehen. Was gemeinhin als solche tituliert wird, ist meist nach wenigen Tagen schon wieder im Getöse der Dauerberieselung untergegangen. Dass im Jahr 2018 ein bis dato unveröffentlichtes Werk John Coltranes erschien, ist allerdings nicht weniger als genau das: eine Sensation. Das verloren geglaubte "Lost album" fand als "Both directions at once" den Weg aus den Archiven in die Öffentlichkeit. Aufgenommen wurde es am 6. März 1963 in New Jersey, genauer gesagt in den legendären Van-Gelder-Studios in Englewood Cliffs. Das Aufnahmedatum gibt auch die Besetzung vor: Neben Coltrane an Tenor- und Sopransaxophon waren McCoy Tyner am Klavier, Jimmy Garrison am Kontrabass und Elvin Jones am Schlagzeug beteiligt. Das "klassische Quartett" also. 1963 markierte einen Wendepunkt in der Karriere des begnadeten Bandleaders. Die Lehr- und Drogenjahre der 50er lagen hinter ihm zurück, die Vergeistigung des Jazz in Form von Meilensteinen wie "Ascension" und "A love supreme" noch vor ihm.
Weshalb die Musiker sich an diesem Tag im März im Studio eingefunden haben, wird ewig ihr Geheimnis bleiben. Fest steht: Sie wollten nicht einfach nur ein wenig herumjammen, sondern hatten ein klares Ziel. Die zwei CDs umfassende "Deluxe edition" gibt Einblick in den Verlauf der Session und zeigt, wie fokussiert die vier Instrumentalisten ans Werk gingen. Die Aufnahmen wurden behutsam und geschmackvoll von Bob Thiele, Harry Weinger, Ken Druker und Ravi Coltrane restauriert und remastert. Obwohl die Rohheit des Ausgangsmaterials deutlich hörbar bleibt, klingt "Both directions at once" jederzeit kristallklar und lebendig. Besonders das herausragende Zusammenspiel der Rhythmussektion kommt durch die transparente Produktion zur Geltung. Garrison und Jones verstehen sich blind: Während ersterer mühelos zwischen komplexen Läufen und zurückhaltenden Grundton-Passagen wechselt, beeindruckt letzterer mit fein akzentuiertem Spiel, das selbst in den komplexesten Momenten nachvollziehbar bleibt.
Das Album beinhaltet zwei Eigenkompositionen Coltranes. "Untitled original 11383 (Take 1)" und "Untitled original 11386 (Take 1)" besitzen keine Titel, sondern werden lediglich durch ihre Aufnahmenummer gekennzeichnet. In beiden Tracks spielt Coltrane Sopransaxophon, was seinen Melodien einen schneidenden Charakter verleiht. Formal orientieren sie sich zwar noch am Hard Bop, allerdings nehmen vertrackte Improvisationspassagen viel Raum ein. Die Auflösung musikalischer Strukturen, die Coltrane in den Folgejahren vorantrieb, wird hier bereits angedeutet. So besitzt "Untitled original 11383 (Take 1)" ein Kontrabass-Solo, das die Komposition in der Mitte unterbricht. Mühelos findet die Band danach wieder den Weg zurück zum Leitthema, jedoch nicht ohne dabei die harmonische Dichte zu erhöhen. Tyners Klavierspiel trägt maßgeblich dazu bei, dass Coltrane seine typischen modalen Läufe über dem Soundteppich ausbreiten kann. In rasender Geschwindigkeit eilt er durch die Skalen, ohne dabei die Bodenhaftung zu verlieren.
Neben weiteren Eigenkompositionen wie dem eingängigen "Impressions" und dem trotz seiner Länge von elf Minuten kurzweiligen "Slow blues" finden sich auch einige Interpretationen auf dem Album. "Vilia" nimmt Bezug auf Franz Lehárs "Die lustige Witwe" und gehört zu den beschwingteren Aufnahmen Coltranes. "Nature boy" von Ehden Ahbez ist ein Standard, dem die vier Musiker respektvoll begegnen. Anstatt ihn per ausufernder Impovisation zu sezieren, bleiben sie ganz bei sich und bei der Struktur des Originals. Die Superlative, die zur Veröffentlichung des Albums durch die Medienwelt geisterten, müssen im Kontext der Unwahrscheinlichkeit des Ganzen gesehen werden. Ein neuer Klassiker ist "Both directions at once: The lost album" nicht, vielmehr ist es ein "missing link". Ein Schnappschuss eines Musikers auf dem Gipfel seines musikalischen Tatendrangs. Dass das Masterband die Jahrzehnte überdauert hat, ist ein Glücksfall. Dank gebührt der Familie von Coltranes erster Ehefrau Juanita Naima, die es nach dem Fund den richtigen Leuten übergeben hat. Die Musikwelt ist so um einen Schatz reicher geworden.
Highlights
- Untitled original 11386 - (Take 1)
- Impressions (Take 3)
- Slow blues
Tracklist
- CD 1
- Untitled original 11383 (Take 1)
- Nature boy
- Untitled original 11386 (Take 1)
- Vilia (Take 3)
- Impressions (Take 3)
- Slow blues
- One up, one down (Take 1)
- CD 2
- Vilia (Take 5)
- Impressions (Take 1)
- Impressions (Take 2)
- Impressions (Take 4)
- Untitled original 11386 (Take 2)
- Untitled original 11386 (Take 5)
- One up, one down (Take 6)
Gesamtspielzeit: 88:46 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
---|---|
Falafel-Andy |
2019-01-08 19:40:02 Uhr
Whansinnig anstrengend das Albun |
Watchful_Eye User Postings: 2852 Registriert seit 13.06.2013 |
2019-01-08 19:36:09 Uhr
"Deluxe daran ist die zweite CD. In der Standard-Version gibt es die nicht."Äh, doch. ^^ Ich besitze die. https://www.amazon.de/Both-Directions-At-Once-Album/dp/B07DJCPC2C/ref=sr_1_2?ie=UTF8&qid=1546972188&sr=8-2 Ich lege das Album allerdings bisher nicht allzu oft auf, muss ich sagen. |
fuzzmyass |
2019-01-08 19:21:15 Uhr
Gestern die Doppel LP bekommen und aufgelegt.... grandios! |
Entwort |
2019-01-08 17:11:14 Uhr
Deluxe daran ist die zweite CD. In der Standard-Version gibt es die nicht. |
Fräge |
2019-01-08 17:06:36 Uhr
Was daran ist denn Deluxe? Ich habe noch nirgendwo weniger als diese Tracklist aus der Rezension gesehen. |
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Referenzen
Miles Davis; Sonny Rollins; Charles Mingus; Eric Dolphy; Sonny Rollins; Wayne Shorter; Thelonius Monk; Hank Mobley; Dexter Gordon; Ornette Coleman; Joe Henderson; Charlie Parker; Cannonball Adderley; Duke Ellington; Lee Morgan; Jackie McLean; Andrew Hill; Herbie Hancock; Bill Evans; Archie Shepp; Freddie Hubbard; Clifford Brown; Horace Silver; Max Roach; Dizzy Gillespie; Art Blakey; Albert Ayler; Oliver Nelson; Cecil Taylor; Grant Green; Sonny Clark; Sun Ra; Lester Young; Art Pepper; Sam Rivers; Red Garland; Johnny Griffin; Ahmad Jamal; Kamasi Washington; Lou Donaldson; Wynton Marsalis; Donald Byrd; Milt Jackson; Keith Jarrett; Brad Mehldau; Elvin Jones; Oscar Peterson; Paul Desmond; Chet Baker
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