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Fucked Up - Dose your dreams

Fucked Up- Dose your dreams

Merge / Cargo
VÖ: 05.10.2018

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 6/10

Nicht von dieser Welt

August 2011, Wiesbaden

Damian Abraham, laut Spiegel Online der "Pavarotti in Unterhose", fegt wie vom Blitz getroffen durch die alte Räucherkammer des Schlachthofs. Springt samt Mikro ins Publikum, setzt sich während eines Stücks in Boxershorts mitten auf die Bar und trinkt dem just nebenan positionierten Rezensenten das gerade gekaufte Bier weg. Fucked Up bringen ihre seitens der Kritik hochgelobte Hardcore-Punk-Oper "David comes to life" auf die Bühnen, die Blicke des Publikums sind nur auf den exzentrischen Frontmann gerichtet, den Shouter mit behaarter Brust und wogender Wampe. Fucked Up ist Abraham. Abraham, so scheint es, ist Fucked Up.

Frühjahr 2018, Toronto

"Dose your dreams", das fünfte Fucked-Up-Album, steht kurz vor der Finalisierung. Es ist ein Doppelalbum. Doch ein Protagonist kennt weder die Songs in der finalen Fassung, noch sind ihm die finale Tracklist, die Lyrics und das Konzept der Platte schlüssig: Damian Abraham. Nicht der Frontmann, sondern Mike Haliechuck, Gitarrist und Visionär der Kanadier, zog die Fäden für das neue Mammut-Werk: "Dose your dreams" ist Haliechuks Projekt. Haliechucks Ideen sind Fucked Up.

Nordengland in den frühen 1980ern

David Eliade, Hauptfigur der 2011er-Saga, schuftet in einer Glühbirnenfabrik, bevor er mit der Aktivistin Veronica Boisson durchbrennt. Gemeinsam zerbomben sie die verhasste Arbeitsstätte und David muss mit ansehen, wie seine Geliebte dabei stirbt. Er macht sich Vorwürfe, doch später wird klar, dass er keine Schuld trägt und sich David vielmehr gegen eine höhere Metaebene wenden muss: gegen den Erzähler Octavio, mit dem er sich einen Kampf um die Deutungshoheit der Geschichte liefert. "Dose your dreams" lässt den Protagonisten in einen ähnlichen Plot eintauchen, erneut aus dem Alltag ausbrechen – diesmal ist es ein langweiliger Bürojob. Im halluzinatorischen Zustand begegnet David der Revoluzzerin Joyce Tops, die ihm sein Dasein vor den Fassaden der unmenschlichen, strikt kapitalistisch orientierten Weltordnung bewusst macht. Auf David wartet ein spirituelles Auf und Ab mit erschreckend realem Bezug – "Dose your dreams" dokumentiert die spirituelle Suche nach seiner wahren Existenz.

September 2018, irgendwo im Land

Dem Rezensenten ist mächtig schwindelig. Weniger aufgrund von alkoholischen Getränken, vielmehr nach 15 oder mehr Bonus-Runden der musikalischen Achterbahnfahrt namens "Dose your dreams", und verzweifelten Ansätzen, fast 83 Minuten Musik zu Bewertungszwecken in eine Zahlenskala zu pressen. Zunächst ist es vielleicht hilfreich, sich von Erwartungen freizumachen, die Fucked Up mit dem relativ straighten und kompakten Vorgänger "Glass boys" gesät hatten. Dieser ging zu großen Teilen auf Abrahams Konto. Doch Haliechuck wollte mehr. Eine Rock-Oper ohne Kompromisse, die das Talent der Truppe ausschöpft und mehr wagt als "David comes to life": Was im Hardcore-Korsett eigentlich gar nicht geht, ist in Fucked Ups neuem Punk-Universum gerade abwegig genug.

Bleiben zarte Gitarrenlicks, Streicher und Chöre zum launigen Eröffnungs-Duo "None of your business man" und "Raise your voice Joyce" samt Bläsereinsatz noch weitestgehend unter Hardcore-Punk-Chords verhüllt, biegen Fucked Up mit dem sphärischen, keyboardgefärbten "Tell me what you see" und dem 70s-Space-Rocker "Normal people", der ein wenig nach Supertramp klingt, zu neuen Horizonten ab. Spätestens jetzt fällt auf: Anders als bisher nimmt sich Abraham am Mikro deutlich zurück, ist insgesamt nur auf zwei Dritteln der Stücke zu hören. Dies lässt "Dose your dreams" Raum für vielschichtige Stimmungen, und macht aus Fucked Up mitunter eine andere Band: J Mascis, Jennifer Castle, Mary Margaret Ohara und Lido Pimienta erweitern die Stimmfarben erheblich, wie nicht nur der wunderbar melancholisch-sleazige Punkrock in "Came down wrong" zu beweisen weiß. Kompakte Hardcore-Brecher wie "House of keys" sind äußerst willkommene, aber doch seltene Gäste.

Das alles kommt nicht von ungefähr. Während Abraham Nebenprojekten frönte, komponierte und tüftelte Haliechuk monatelang in Eigenregie. Gemeinsam mit Drummer Johah Falco warf er dann allerhand Logisches wie Unlogisches im Studio auf einen großen Haufen, werkelte mit ungewohnten Effekten und Sounds, lernte für das Genre abseitige Instrumente und lud sich den Streicher-Virtuosen Owen Pallett ins Studio ein, der den Stücken das i-Tüpfelchen verleihen sollte. So windet sich das unbequeme "Torch to light" zwischen Krautrock, Piano und verzerrten Gitarren, Abraham grunzt gegen Jennifer Castles zartes Folk-Organ an, bevor der famose Titeltrack sich im gedämpften Strobo der 70s-Disco bewegt, ja samt Streichern gar Arcade Fires "Reflektor" auf den Plan ruft. Das tolle "Talking pictures" baut zunächst halbdunkle Atmosphäre auf, bevor Gitarrenchords die Überhand gewinnen und den Song zu einer typischen, schnaufenden Fucked Up-Hymne gedeihen lassen. Ähnlich ergeht es "I don't wanna live in this world anymore", das Haliechuck um Sandy Mirandas feinen Basslauf herum und auf ein verkapptes AC/DC-Riff baut, bevor Abraham doch noch austicken darf und Country-Gitarre wie Saxophon im Auslauf für Staunen sorgen.

Nachdem "How to die happy" überraschend im Dreampop-Whirlpool gebadet und "Two I's closed" zur eingetretenen Entweltlichung als zartes Sixties-Akustik-Intermezzo genügt hat, schießt "Mechanical bull" vor dem verkappten Industrial-Rocker "Accelerate" den Vogel ab. Das Stück wütet entfesselt zwischen Techno- und HipHop-Beats, doch selbst der penetrante Drumcomputer lässt genügend Raum für Abrahams verbale Aggression. Phänomenal bleibt indes, wie Fucked Up auch in Überlänge stets spannend arrangieren, all diese Facetten in eine stimmige Soundcollage fassen und auf einen faszinierend hohen Gesamtnenner hieven.

Ende August 2019, www.pitchfork.com: "The 100 best albums of the decade 2010-2019" (übersetzt mit Google Translator)

Spätestens wenn die Kanadier mit "Joy stops time" einen dieses Mammutwerks angemessenen, epischen Schlussakt platzierten war auch den verwirrtesten Hörern klar, dass "Dose your dreams" Rock, Folk, Disco, Oper und Hardcore als selbstverständliche Symbiose versteht. Mit einem Abraham auf Tauchstation sind Fucked Up, ähnlich ihrer Figur David, vor allem eines: nicht von dieser Welt.

(Eric Meyer)

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Highlights

  • None of your business man
  • Talking pictures
  • House of keys
  • Dose your dreams
  • I don't wanna live in this world anymore
  • Mechanical bull
  • Came down wrong

Tracklist

  • CD 1
    1. None of your business man
    2. Raise your voice Joyce
    3. Tell me what you see
    4. Normal people
    5. Torch to light
    6. Talking pictures
    7. House of keys
    8. Dose your dreams
  • CD 2
    1. Living in a simulation
    2. I don't wanna live in this world anymore
    3. How to die happy
    4. Two I's closed
    5. The one I want will come from me
    6. Mechanical bull
    7. Accelerate
    8. Came down wrong
    9. Love is an island in the sea
    10. Joy stops time

Gesamtspielzeit: 82:24 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

slowmo

Postings: 1128

Registriert seit 15.06.2013

2019-01-30 11:06:26 Uhr
Hatte schon angenommen, dass sie da schwerpunktmäßig eher punkiger klingen. Hätte ich jetzt glaube aber dennoch gut gefunden. Vllt. sogar besser als andersherum.

MopedTobias (Marvin)

Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion

Postings: 19949

Registriert seit 10.09.2013

2019-01-30 10:31:47 Uhr
Wars auch, allerdings schon klassisch punkiger als auf (gerade der aktuellen) Platte. Muss man mit klarkommen, mein Begleiter, der die Band vorher kaum kannte und generell wenig mit (Hardcore-)Punk anfangen kann, fand's nicht so gut. Live sind sie eher ne relativ klare Genre-Band, da sind die blöden Schubladen dann doch nicht ganz so blöd.

slowmo

Postings: 1128

Registriert seit 15.06.2013

2019-01-30 09:30:55 Uhr
Wollte eigentlich auch erst zu dem Konzert. Hätte soweit ich weiß ja sogar noch spontan Karten gegeben, aber war leider zu kaputt noch vom WE. Montagskonzerte sind immer nervig.

Hat es sich denn gelohnt? Stelle ich mir Live ziemlich großartig vor.

MopedTobias (Marvin)

Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion

Postings: 19949

Registriert seit 10.09.2013

2019-01-29 17:02:54 Uhr
Absolut. Ich denke, dass solche Labels bei dieser Band eine Menge Menschen davon abgehalten hat, in dieses wirklich grandiose Album reinzuhören, denen es komplett gefallen würde. Was hätte Dose Your Dreams wohl als Debüt einer unbekannten Band für einen gewaltigen Knall verursacht? Aber so machen sowohl die eher engstirnigen Genre-Fans, denen Fucked Up schon immer nicht trve genug waren, als auch die, die mit "Hardcore-Punk" grundsätzlich nichts anfangen können, wohl leider einen großen Bogen um eine Platte, die eigentlich jedem halbwegs im PT-Kosmos beheimateten Menschen zumindest für ein paar Songs viel Spaß machen müsste. Das gilt auch für die, die von Abrahams Gekeife immer abgeschreckt waren, denn den hört man hier auf vielleicht 50% der Laufzeit, wenn überhaupt. In einem Drittel der Songs überhaupt nicht.

Deshalb auch von mir die ganz dringende Empfehlung nicht nur an MarGon, sondern an alle, die das hier aus welchen Gründen auch immer lesen: Hört dieses Album. Meckern könnt ihr danach noch :)

eric

Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion

Postings: 2799

Registriert seit 14.06.2013

2019-01-29 15:42:42 Uhr
Viel Vergnügen! :) Braucht ein wenig Ausdauer. Aber wenn die Aspieltipps aus den Rezensionen in deinen Ohren was taugen, solltest du es wagen. Wobei "Dose your dreams" sehr abwechslungsreich ist, "David comes to life" durchgehend mehr purer (Hardcore-)Punkrock.

Schwer manchmal die Schubladen zu beschriften. Dort, wo sie zu sehr künstlich abgrenzen wollen, und dann ein Antesten der Musik verhindern, finde sie auch nicht förderlich.
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