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Das Paradies - Goldene Zukunft

Das Paradies- Goldene Zukunft

Grönland / Rough Trade
VÖ: 24.08.2018

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 6/10

Auch wenn es scheußlich klingt

Okay, das ist schon harter Tobak für Freunde des gepflegten Pessimismus: Ein Singer-Songwriter mit dem Pseudonym Das Paradies veröffentlicht ein Album und nennt es "Goldene Zukunft". Das klingt nach diesen knallbunten, runden Kaugummis, die immer genau nach drei Minuten ihren Geschmack verlieren. Hat man zu oft probiert, ist am Ende halt fad. Jetzt aber, wenn man weiß, wer hinter dieser Platte steckt, dann kommt man eigentlich nicht drum herum, ihr trotz schillernd proklamierter Zuckerwattigkeit eine Chance zu geben: Das Paradies, das ist der Leipziger Florian Sievers, ansonsten ein Teil von Talking To Turtles, produziert hat die Scheibe Simon Frontzek, und live sitzt gern auch mal Rudi Maier a.k.a. Burkini Beach am Schlagzeug. Deswegen gehen Sievers und Maier auch gemeinsam auf Tour Ende 2018. Namen sind Schall und Rauch und so, aber hey, hier kegeln sie halt die Vorurteile weg.

Und, so viel kann man gleich vorweg schicken: Es wäre eine Schande gewesen, nicht in "Goldene Zukunft" reinzuhören, denn das fast 40-minütige Solo-Debüt Sievers' ist alles andere als eine naive, philipppoiseleske Werkschau buntester Farbigkeiten. Stattdessen bleibt das Album durchweg reflexiv, auch wenn es den optimalen Ausgang der geschilderten Geschichten jeweils als erwartbares Ende formuliert. Das klingt doch eigentlich gesund. Unter den elf Songs gibt es dabei keinerlei Ausfälle, stattdessen stechen einzelne Titel heraus. Allen voran "Die Giraffe streckt sich", das sich zu marschierendem Gitarren-Pop seinen Weg bahnt. Nicht nur kann jeder Nikotinfreund die erste Zeile "Ich rauche, rauche, rauche / Nur wenn ich schlafe nicht" anschaulich nachvollziehen, sondern diese Schilderung einer Überdosis Langeweile, die letztlich dazu führt, dass der Protagonist anfängt, sich selbst zu mögen, weil er endlich die Zeit dafür hat, ist einfach nur wunderbar liebenswürdig. Trotzdem fliegt der Track unter dem Kitschradar, und auch musikalisch weiß er zu überzeugen, wenn um den Chorus die Instrumentierung alles in die Waagschale wirft, was sie an Eingängigkeit aufbringen kann.

Der Titelsong "Goldene Zukunft" lässt fast plötzlich den Rhythmus einsetzen, ein bisschen klingt Das Paradies hier nach Die Höchste Eisenbahn, auch weil Sievers ähnlich wie Moritz Krämer die Silben nach hinten ausdehnt. Der schwungvolle Refrain inmitten von E-Gitarre, Piano und fluffigen Drums bringt zudem selbst müdeste Beine ins Wippen. Sievers gibt sich verständnisvoll, muss aber, "auch wenn es scheußlich klingt", konstatieren, "dass die Zeiten rosig sind". Einfach ärgerlich, wenn's mal läuft. In "Hinter Deiner schönen Stirn" setzt Das Paradies Optik und Hirnschmalz in Kontext, macht seinen Umgang mit der Menschheit dennoch weder am einen noch am anderen fest und stellt erneut seinen Optimismus heraus: "Wir haben uns entschieden, dass es ein gutes Ende nimmt / Wir haben uns entschieden, dass wir Euch lieben." Anderswo, explizit in "Es gab so viel, was zu tun war", nimmt Sievers Zwischenmenschliches unter die Lupe und lässt Enttäuschung und Befriedigung zur verzerrten Melodica tanzen. Langsamer naht "Hier bist Du sicher" heran, das einen Rückzugsort findet und mit seiner fröhlichen Akustischen und hellem Geklimper einen Reset in Richtung Natürlichkeit vornimmt.

Spätestens, wenn "Goldene Zukunft" in "Discoscooter" deutlich düsterere Töne anschlägt, wird deutlich, wie wenig eindimensional hier zu Werke gegangen wird. Der Song tritt zunächst äußerst betrübt ins Geschehen, steigert sich aber schließlich kraftvoll ins Wütende und klingt schließlich zu wirren Orgeltönen aus. Auch "Du, die anderen und ich" ist eine Spur schwärzer: Sievers wähnt sich selbst als Erbauer der Titanic, es es ist ein Lied vom Scheitern, das vor allen Dingen von seiner herzschlagenden Percussion getragen wird. "Ein schönes Unentschieden" kommt ebenso in Moll daher, eine Slidegitarre säuselt zunächst, fängt dann an zu klingeln, bis Handclaps und anderes Geklacker die Szenerie weiter ausbauen und das Stück zu einer Art Lo-Fi-Club-Hit heraufstufen. Ein Song gegen das Morgen, zwischen Ängstlichkeit und zu vielen unbeantworteten Fragen. Dennoch bleibt die Unterlippe über dem Wasserspiegel.

Wenn man schon wieder verletzt wurde, wenn vertraute Menschen gehen müssen oder auch wenn hierzulande auf einmal wieder Hitlergrüße und Menschenhatz salonfähig sind, könnte man schon manchmal in den Kopf in den Sand stecken. Aber "auch wenn es scheußlich klingt" – um diesen Satz noch mals herauszugreifen –, einen immerleuchtenden Optimismus zu kultivieren, vielleicht auch mithin durch das Stilmittel der Übertreibung, erscheint mit diesem Album wie ein Ausweg aus dieser ewigen Misere namens Leben. Sievers' Erstlingswerk versprüht schwungvoll eine Fröhlichkeit, die aus einem intrinsischen Ich-werde-zufrieden-Sein entsteht, die länger schmackhaft bleibt, als man es ihr zugetraut hätte, die auch einmal hadern darf, aber als Konstante immer greifbar bleibt. In diesem Sinne: Auf unsere "Goldene Zukunft"!

(Pascal Bremmer)

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Highlights

  • Goldene Zukunft
  • Die Giraffe streckt sich
  • Ein schönes Unentschieden

Tracklist

  1. Das große Versprechen
  2. Goldene Zukunft
  3. Es gab so viel, was zu tun war
  4. Discoscooter
  5. Die Giraffe streckt sich
  6. Du, die anderen und ich
  7. Hinter Deiner schönen Stirn
  8. Ein schönes Unentschieden
  9. Dürfen die das
  10. Hier bist Du sicher
  11. Das Universum weiß es auch nicht

Gesamtspielzeit: 39:46 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag
Shifter
2018-10-19 10:07:11 Uhr
Gerade das Ende hat es in sich.
Es wird also nur noch positiv gefärbte Berichterstattung geben. Wer negatives sagt, muss mit Konsequenzen rechnen.
UN-Migrationspakt
2018-10-19 08:21:40 Uhr
So soll die Rettung von Migranten zum Beispiel auf dem Meer gemäss dem Papier verstärkt und ihre Versorgung ausgebaut werden. Sie sollen von Anfang an Zugang zum Sozialsystem, zum Bildungssystem und zur Gesundheitsversorgung haben. Der Familiennachzug soll erleichtert werden und darf nicht mehr davon abhängig gemacht werden, ob jemand in der Lage ist, die Familie zu versorgen, wie es heutigem Schweizer Recht entspricht. Der Pakt fordert auch die Elimination «aller Formen von Diskriminierung» und die Förderung des öffentlichen Diskurses «zur Gestaltung der Wahrnehmung der Migration» mittels Kampagnen und Beeinflussung der Medien bis hin zum Entzug von Fördermitteln.
Kurdt
2018-09-12 18:16:04 Uhr
Boah haben die nervige Lyrics, da kriege ich ja Gänsehaut. Philipp Poisel bitte hilf!
Spreewelle
2018-09-08 18:09:22 Uhr
Hatte auch Angst, dass Ihr sie überseht, die beste deutsche Platte 2018. 10/10. Erste Assoziation: Wort und Melodienkünstler Peter Licht entspannt sich endlich. Seit der ersten VÖ Fan und deswegen auch instantly verknallt in das tolle Jaques Palminger Cover „Wann strahlst Du“, das es leider nicht auf die weiße Vinyl geschafft hat. Aber auch aus eigener Feder: Herrlich luftig-verkaterte Texte und wahnsinnig erbauliche, weil abwechslungsreiche Harmonien. Einen Entzauberungseffekt kann ich nicht nachvollziehen, aber mit organisch gewachsener Fanboyhistorie bewertet man Alben nachvollziehbarerweise anders.

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26212

Registriert seit 08.01.2012

2018-09-06 19:41:44 Uhr
Aber gerne. Danke fürs nette Feedback. Auch an "Philipp Poisel", wenngleich mir schwer fällt zu glauben, dass es der echte ist. ;-)
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