Interpol - Marauder
Matador / Beggars / Indigo
VÖ: 24.08.2018
Unsere Bewertung: 6/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
Messlattenmessen
Schnitzeljagd im Hause Interpol? Bevor die Band am 7. Juni 2018 auf einer perfekt inszenierten Pressekonferenz in Mexico City die Ankündigung ihres neuen Studioalbums "Marauder" in die Welt livestreamten, veranstaltete das Trio einen ziemlich kryptischen Social-Media-Zirkus um die anstehende Bekanntmachung. Soziale Medien sind ja heute das Ding, auch für eine 21 Jahre alte Band, und Mexiko City gilt als Spotify-Metropole schlechthin. Was die Informationsstreuung zur ersten Interpol-Platte seit vier Jahren angeht, kann man den New Yorkern also quasi keinen Vorwurf machen. "Gefickt eingeschädelt", würden RTL-Kinder der Neunziger da sagen, denn Indie-Kinder der Nuller frohlockten umso mehr hinsichtlich des sechsten Langspielers aus dem Hause Interpol. Es gibt aber ein Problem: Das Album hat das geschilderte Brimborium eigentlich nicht verdient.
Um der Sache direkt mal den Zahn zu ziehen: "Marauder" ist das schwächste Album, das Interpol jemals veröffentlicht haben. Eine Vorahnung ergab sich dabei schon durch die zeitgleich mit der Albumankündigung gestreute Vorabsingle "The rover". Die Herren wollten wieder wie eine echte Rockband klingen, die Texte seien nunmehr zugänglicher, mochte die Promo erklären. Was Auskopplung Nummer eins aber zum Hörer transportierte, ist eine vergleichsweise räudig produzierte, relativ unspektakulär ausformulierte Geschichte von einem modernen Rattenfänger. Hinsichtlich des Wahlerfolgs Donald Trumps 2016 wirkt sie zudem ein wenig ausgelutscht. Das Stück schreitet zwar durchaus fix voran, seine Dynamik aber zerfällt in der ungewohnten Gleichförmigkeit des Beats. Das ist simpelster Post-Punk, der als B-Seite zu "Turn on the bright lights"-Zeiten musikalisch sicher getaugt hätte, als erste Single dieses sechsten Studioalbums, das die Band als großen Coup um den Globus schickt, erscheint es allerdings völlig ungeeignet.
Man liest an dieser Stelle sicher die Enttäuschung des Rezensenten heraus, der Interpol gerne als eine seiner Top-10-Bands bezeichnet, der sein vielleicht intensivstes Konzert aller Zeiten 2011 beim Auftritt der Truppe im Wiener Gasometer erlebte. Ein bisschen mehr Neutralität ist angebracht, ja, aber euphorische Züge wird diese Rezension angesichts der zwölf weiteren Tracks auf "Marauder" auch nicht mehr annehmen. Interpol legen eine Verdaulichkeit an den Tag, die man ihnen so gar nicht zugetraut hatte. Auch die zweite Single, "Number 10", kann darüber nicht hinwegtäuschen, wenn die Band die Story einer Büroromanze in ihren Erklärungen drumherum allen Ernstes zur Sozialkritik hochpushen möchte. Es ist ein guter Titel, ein ganz typischer Interpol-Track, aber auch nicht der große Wurf – eigentlich war er als B-Seite gedacht. Die dreckige Rhythmusgitarre hat zwar schon Feuer im Arsch, aber die Ausformulierung gerät auch hier wieder zu gewollt matschig: Drei Jungs in Designeranzügen musizieren in der Garage, das funktioniert so nicht mehr. Dann lieber halb entrückt Körperflüssigkeiten wegschniefen wie 2010 in "Lights".
Was die Platte am Leben erhält, ist nicht Paul Banks' nunmehr angeblich persönlicheres Songwriting, oder die proklamierte neue bzw. wiedergewonnene Rockigkeit, sondern – und davon lebten Interpol schon immer – Daniel Kesslers schellende Leadgitarre. Wenn diese wie in "Stay in touch" der Pulsgeber ist, nimmt der Sound des Trios spannendere Formen an. Auch das etwas strukturiertere "Flight of fancy" geht gut ins Ohr, steigert sich schön zur Chorusline, bis eben erwähnter Kessler im letzten Drittel das Biest entfesselt. Durchaus gewinnend erscheint das abschließende "It probably matters", in welchem Banks fast den Pathos eines Win Butlers versprüht, wenn er unverhohlen ins Mikrofon jammert. Referenz-Track von Arcade Fire: "My body is a cage". Nicht im Sinne der sakralen Inszenierung desselben, sondern eben hinsichtlich der Emotionalität des Gesangs, natürlich innerhalb des Rahmens, den Banks' Coolness halt zulässt. Dennoch ist das an dieser Stelle durchaus erfrischend.
Auch der Opener "If you really love nothing" ist ein guter, fast schon "klassischer" Interpol-Titel, dennoch abermals kein spektakulärer. Wer auf "Marauder" nach Krachern wie "Slow hands" oder "Barricade" oder der dynamischen Schmissigkeit eines "All the rage back home" sucht, wird nicht fündig werden. Wer 2002 das Experimentelle, Kryptische an "Stella was a diver and she was always down" geliebt hat, begegnet 2018 einer Band, die fast plakativ unexperimentell vorgeht. Klingt arg negativ? Na ja, "Marauder" ist kein schlechtes Album, es ist sogar ein ganz gutes Album, aber es floppt unter der Messlatte durch, die sich Interpol in zwei Jahrzehnten selbst gelegt haben. Mit "NYSMAW" hat man zumindest noch einen weiteren Titel, der aufgrund seiner Melodieführung sicherlich im Ohr hängen bleiben wird, und "Party's over" legt zum Ende eine satte Steigerung hin, die im Umfeld der an dieser Stelle wirklich starken Drums durchaus das Zeug hat, nachhaltig zu begeistern. Also versöhnliche Töne. Interpol abzuschreiben, wäre sicherlich auch nicht das Richtige, und man darf auch "Marauder" nicht einfach weglegen, sondern sollte ihm eine Chance einräumen. Für Album Nummer sieben haben die drei New Yorker aber dennoch ziemlich sicher den Vorteil, dass die Erwartungshaltung etwas milder ausfallen dürfte.
Highlights
- Stay in touch
- Flight of fancy
- Party's over
Tracklist
- If you really love nothing
- The rover
- Complications
- Flight of fancy
- Stay in touch
- Interlude 1
- Mountain child
- NYSMAW
- Surveillance
- Number 10
- Party's over
- Interlude 2
- It probably matters
Gesamtspielzeit: 44:34 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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VelvetCell Postings: 7779 Registriert seit 14.06.2013 |
2021-05-31 23:26:36 Uhr
Rotiert hier seit längerem mal wieder. Das Album geht musikalisch voll in Ordnung, auch wenn es nicht an die Großtaten heranreicht.Aber die Pressung (cream Vinyl) ist echt mal Kot. |
tjsifi Postings: 863 Registriert seit 22.09.2015 |
2019-06-26 09:16:35 Uhr
Habe auf ner langen Urlaubsfahrt nochmal ein paar Durchläufe gemacht und das Album gefällt mir schon deutlich besser als nach dem Release. Trotzdem bleibt nur sehr wenig "hängen", also richtig warm werde ich immer noch nicht damit. Kann nebenher laufen aber ich nehme nichts davon mit. |
hallogallo Postings: 197 Registriert seit 03.09.2018 |
2019-06-16 22:42:01 Uhr
Solidarität mit Hmmmm! |
dougie |
2019-06-16 12:27:07 Uhr
1. Für mich gehört die s/t auch zu ihren besten. Sehr stimmig, nicht nur Success ist ein Highlight. Auch top Produktion. Pauls Stimme ebenfalls sehr gut, wunderschön melancholisch.2. Finde ich es nicht besonders sinnvoll Alben mit Punkten zu bewerten/vergleichen. |
Wer |
2019-06-16 11:53:14 Uhr
die s/t als die schlechteste Platte bezeichnet, säuft doch Lack und frisst kleine Kinder. |
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Referenzen
Paul Banks; Julian Plenti; The National; Calla; Film School; I Love You But I've Chosen Darkness; And Also The Trees; The Chameleons; The Twilight Sad; Escapologists; British Sea Power; Echo & The Bunnymen; Joy Division; Editors; The Comsat Angels; Kitchens Of Distinction; The Church; The Sound; For Against; I Like Trains; Low; EmptyMachines; Secret Machines; The Double; Elva Snow; The Drums; Merchandise; CatPeople; Pen Expers; Cut City; Snowden; The Race (US); Dial M For Murder!; Project:Komakino; Tides; Motorama; Delay Trees; O. Children; The Mary Onettes; Computerclub; The Cinematics; Laurence And The Slab Boys; White Lies; Diego; Hypernova; Stellastarr*; These Reigning Days; PostScriptum; The Boxer Rebellion; Augustines; The Stills; The Strokes; The Smashing Pumpkins; Television; French Kicks; Spoon; The Ponys; Amusement Parks On Fire; Moose; Malory; Deerhunter; Atlas Sound; Klimt 1918
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