Jonny Greenwood - Phantom thread

Nonesuch / Warner
VÖ: 09.02.2018
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Sehen, zupfen, küssen, quälen
Er rasiert sich, trimmt die Nasenhaare, schmiert eine Creme ins Gesicht, fein säuberlich bürstet er die Haare, einmal, zweimal. Alles soll, nein: es muss sitzen. Dann in die Unterwäsche steigen, die roten, leicht extrovertierten Socken bis hoch ans Knie ziehen, schließlich darf kein Fleckchen Haut zu sehen sein, wenn er später die Beine überschlägt, wenn er abwartet, zuhört, nachdenkt: Der Moment nach dem Aufstehen hat für Reynolds Woodcock etwas Spirituelles, beinahe Obsessives, schon Kathartisches. Und erzählt in wenigen Sekunden mehr über diese Figur, als es noch so ausgeklügelte Dialoge oder Beschreibungen zu tun vermögen. Daniel Day-Lewis spielt diesen Reynolds Woodcock. Es wird seine wohl letzte Schauspielrolle sein. Im Film "Phantom thread", in den deutschen Kinos als "Der seidene Faden" zu sehen.
Was diesem allmorgendlichen Zeremoniell die Grazie und Anmut verleiht, ist — neben Day-Lewis, der mal wieder durch und durch, ganz Method-Acting, unter die Haut einer Rolle kriecht, hier unter die eines Schneiders, also eher unter dessen Stoffe — ist der Soundtrack von Jonny Greenwood, mit dem Stück "House of Woodrock". Das Klavier klimpert Pirouetten, die Streicher wuseln wie Plüsch, so sanft und ineinander verwoben. Stil. Eleganz. Grazie. Zu sehen in den Bewegungen. Zu hören in dieser Musik, die sich sanft ins Ohr streichelt. Greenwood hatte ein 60-köpfiges Orchester hinter sich. Er schnürt mit ihm, wie mit Seide, breite und weite Teppiche. Schon seit 2007 arbeitet er als Haus-Filmkomponist für Paul Thomas Anderson. Dabei sind Soundtracks für "There will be blood" und "The master" entstanden, also expressive, stellenweise sehr verkopfte Werke. Oder mit "Inherent vice" ein Filmscore, der sich krautrockig und beflissen um Songs von Can und Minnie Riperton zusammenfand.
Anders bei "Phantom thread". Greenwood hat traditioneller komponiert. Das ist Klassik. Ausgangspunkt war Glenn Gould und dessen Einspielung der "Goldbach Variationen" von Johann Sebastian Bach. Dort ist das Klavier die Hauptfigur, das, wie Day-Lewis nach Art des Method-Acting variiert: Mal wirkt es barock, dann wieder sakral-erhaben, wird pur und sanftmütig, geistreich, ausufernd, gar dekadent. Es springt, wie Gefühle, stolpert, wie in Verzagtheit, überrumpelt sich, wie in Begeisterung. Pitchfork vergleicht Greenwoods Arbeit für "Phantom thread" mit einem luxuriösen Happen: Kaviar und Foie-Gras-Sandwich. Aber es ist noch mehr. Das ist unzulänglich. Weil das Drumherum mit zig Streichern dabei ist. Es wird ein vollständiges, edel-britisches Teegedeck gereicht, mit teuerstem Porzellan, feinem Silberbesteck und dem Dekor der eben erst geschnittenen Rosen.
Aber das ist Oberfläche. Eine hauchdünne Firnis: Pomp und Luxus lenken davon ab, was als Romanze getarnt in ein Psychospiel ausartet. Woodcock trifft eine neue Muse Alma, gespielt von der jungen Luxemburgerin Vicky Krieps, die Day-Lewis vor der ersten gemeinsamen Szene nicht kennenlernen wollte, um diesen ersten Blick, die Schockstarre eines fasziniert Verliebten, möglichst intensiv zu halten, möglichst wahr und echt, so vermeintlich das im Kino nur sein kann. Er hat eine Muse gefunden, dieser Londoner Modeschneider in den 1950ern. Er formt sie, verhüllt sie, die sich daraufhin nicht mehr dem manischen Künstler unterwerfen möchte. Die Geliebte wird störrisch. Das Knechten und die Manipulation verändern sich, werden zu einem Terrorisieren und Zerfleischen, einem Leiden und Misshandeln, gestenlos und beinahe wortlos.
Und hier wird Greenwood famos. Im Spiel unter dem eigentlich Gespielten. "Phantom thread III" zerrt eine Gequältheit hervor, wie sie sonst im "Requiem" von Mozart begraben liegt. "Phantom thread II" erinnert in seiner langsamen Klavierspur an "Videotape", einem Stück von Greenwoods Hauptband Radiohead. Das Unglück, es wird unausweichlich und die Traurigkeit, die sich omnipräsent in diesem Soundtrack andeutet, verstärkt sich langsam. Die durchzuhaltende Stille von "I'll follow tomorrow", die dezente Raserei von "Barbara Rose" — die szenische und charakterbezogene Ausarbeitung ist Greenwood nicht besser in musikalischer Ergänzung gelungen. "Phantom thread" ist pure Schönheit im Bild, wie in den Tönen. Im Film sollte dieser Schönheit misstraut werden. Als Songs zählen sie zu dem Besten, was Greenwood, ob mit oder ohne Radiohead, je komponiert hat.
Highlights
- Phantom thread III
- House of Woodcock
- Barbara Rose
Tracklist
- Phantom thread I
- The hem
- Sandalwood I
- The tailor of Fritzrovia
- Alma
- Boletus Felleus
- Phantom thread II
- Catch hold
- Never cursed
- That's as may be
- Phantom thread III
- I'll follow tomorrow
- House of Woodcock
- Sandalwood II
- Barbara Rose
- Endless superstition
- Phantom thread IV
- For the hungry boys
Gesamtspielzeit: 55:41 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
---|---|
t libaknecht |
2018-02-10 06:47:08 Uhr
Ist das nicht der Typ von Radiohead? |
Standard mit "d" am Ende |
2018-02-09 14:45:04 Uhr
Lieber Rezensent, es gibt die Goldbach-Vermutung, aber keine Goldbach-Variationen (jedenfalls nicht vom göttlichen Johann Sebastian Bach). Bitte korrigieren. Standi |
Beerhunter Postings: 40 Registriert seit 14.10.2013 |
2018-02-09 13:19:07 Uhr
Der Film ist wirklich toll, der Soundtrack in der Tat auch. Ich bevorzuge aber introvertierte Socken. ;D |
Der Untergeher User und News-Scout Postings: 1874 Registriert seit 04.12.2015 |
2018-02-09 09:47:58 Uhr
Guter Soundtrack zu fantastischen Film. Zur Rezi, etwas gezwungen, liest sich der Versuch. Inhaltlich stimme ich aber völlig zu. Ausgangspunkt ist die "Goldberg Variation", nicht "Goldbach". |
zappy |
2018-02-09 09:17:48 Uhr
Ich bin ja mit der Bewertung einverstanden; finde den Soundtrack (wie auch die letzten drei Vertonungen der P.T.Anderson Filme) fantastisch. Für gewöhnlich fand ich vor allem den Sound beeindruckend; die Platzierung im Raum der Instrumente und die Qualität und individuelle Produktion der Klänge an sich stand für mich bisher eher im Fokus. Nun kommen die Kompositionen dem auch nach. Die Rezension an sich ist meines Erachtens nach allerdings unlesbar... |
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Referenzen
Glenn Gould; Vladimir Horowitz; Wilhelm Kempff; Arthur Rubenstein; Johann Sebastian Bach; Emerson String Quartett; Grigory Sokolov; Lang Lang; Herbert von Karajan; Alban Berg Quartett; Ludwig Van Beethoven; Erik Satie; Nils Frahm; Chilly Gonzales; Jóhann Jóhannsson; Max Richter; Nicolas Godin; Scott Walker; Cliff Martinez; Colin Stetson; The Kronos Quartet; Igor Strawinsky; Philip Glass; John Cage; Olivier Messien; Steve Reich; Nick Cave & Warren Ellis; Bell Orchestra; Set Fire To Flames; Ólafur Arnalds; Rachel's; Brian Eno; Björk; Radiohead; Thom Yorke
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