Tom Schilling & The Jazz Kids - Vilnius
Embassy Of Music / Warner
VÖ: 21.04.2017
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Die Aula applaudiert
Ab und zu braucht es jemanden, der die Sache rettet. So richtig erbaulich war das im Jahr 2017 bisher nicht, in Bezug auf Gesangausflüge der schauspielernden Zunft. Umso besser, dass die Berliner Darsteller-Koryphäe Tom Schilling ("Crazy", "Der Baader Meinhof Komplex") gemeinsam mit seiner Begleitband The Jazz Kids und der Debütplatte "Vilnius" in dieser Hinsicht auf den Tisch haut. Denn so geht's ja nicht! "Deine Sätze sind hohl / Deine Versprechen sind leer / Und schön find ich Dich / Schon seit Jahren nicht mehr." Okay, das hat er sicher nicht für den Kollegen Schweighöfer und seine plattengewordene Katastrophe "Lachen Weinen Tanzen" gedichtet. Aber lustig ist der Gedanke schon. Und dazu orgelt es geschmackvoll, als hätte jemand zu viel The Doors gehört. Wenn das überhaupt möglich ist.
Schilling ist nun rein technisch gesehen kein Sänger vor dem Herrn. Aber er weiß sich in Szene zu setzen. Zum einen überfordert er sich nicht mit Melodiebögen außerhalb seiner Reichweite. Und zum anderen steckt er in jeden Vortrag so viel Theatralik, dass sein Hauptberuf auch auf "Vilnius" stets durchscheint. Das ist sicher nichts für den Massenerfolg. Mal denkt man ob der geschwollenen Sprache an Tocotronics Dirk von Lowtzow, ab und zu kommen dagegen angesichts der exaltierten Phrasierung Hildegard Knef oder Jacques Brel in den Sinn. Und die Musik dazu ist stets pointiert, oft fantastisch – und dazu herrlich organisch abgemischt. Die erwähnte Doors-Orgel hat mehr als einen Gastauftritt, ansonsten fahren The Jazz Kids ihrem Namen entsprechend ein ganzes Schulorchester aus Klavier, Xylofon, Bläsern und was die Requisiten sonst noch hergeben auf. Eines der aufwändigsten Aulakonzerte der Welt sozusagen. Es fehlt nur der eigentlich vollkommen verdiente Applaus.
Denn die Songs – Mensch, sind die opulent. "Draußen am See" klaut ganz offen bei Yann Tiersens "La valse d'Amélie" und spinnt sich dazu eine unheimliche Geschichte zusammen: "Draußen im See wird das Blut geschwind kalt." "Ein Junge" fährt einen ähnlich nachtumwobenen Film, als Gegenpol brettert zuvor "Genug" mit Galopp-Rhythmus aus dem Gatter. Dramatischer Höhepunkt von "Vilnius" ist die "Ballade von René", eine Junkie-Chronik von den Straßen Berlins, die sich mit jedem Vers mehr in ihr Elend steigert und wie ihr Protagonist zu zerbersten droht. Wenn "Kinder" im Anschluss aus dem alten Gassenhauer "Sind so kleine Hände" von Bettina Wegner mit spartanischer Instrumentierung den Text plötzlich ins Bedrohliche verkehrt, laufen gar Schauer über den Rücken. Auch bei "Schwer Dich zu vergessen" lesen sich die Zeilen "Ich liebe Deine Haare / ich liebe Deinen Mund / Wenn ich mich nicht beherrschen kann / Küsse ich ihn wund" auf dem Papier zwar kitschig, in Kombination mit lauerndem Gitarrenzupfen und Schillings unschuldiger Stimmfärbung wirken sie jedoch beklemmend.
Ein gewisses Faible für Overstatement braucht man ohnehin für die Freude an "Vilnius", ein einziges Mal überspannt Schilling die Sache allerdings auch für Theaterfreunde. Das Duett "Ja oder nein" mit Annett Louisan ist schlichtweg zu viel Schmalz auf dem Brot, gefährlich nahe an heimatseliger Volksmusik. Es spricht für die anderen Songs, dass ein solcher Außenseiter immerhin schnell vergessen ist. Insbesondere, wenn sich der von Elektrobeat getriebene Closer "Kalt ist der Abendhauch" ab der Hälfte noch mal doppelt ins Zeug legt und der summende Synthesizer bleibenden Eindruck hinterlässt. Soll der Schweighöfer doch weiter seine seichten Blockbuster drehen und die passende Musik des geringsten Widerstands produzieren. Tom Schilling hat da was Besseres: ein Album mit Charakter. Wir werden ja sehen, woran man sich in zehn Jahren noch erinnert.
Highlights
- Draußen am See
- Ballade von René
- Kalt ist der Abendhauch
Tracklist
- Kein Liebeslied
- Genug
- Ein Junge
- Draußen am See
- Rasteryaev
- Ja oder nein
- Ballade von René
- Kinder
- Schwer Dich zu vergessen
- Kalt ist der Abendhauch
Gesamtspielzeit: 37:47 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
---|---|
geht gut! |
2017-04-20 14:04:52 Uhr
https://www.youtube.com/watch?v=9N0otNn-mRw |
Gary |
2017-04-20 13:19:21 Uhr
Stadlober war ja schon seit seiner Jugend als Musiker aktiv, da besteht kein Verdacht, dass er das macht, um zusätzlich Kohle zu scheffeln. Dessen Musik war auch nie irgendwie anbiedernd an ein Massenpublikum. |
args |
2017-04-20 12:54:46 Uhr
stadlober, schweighöfer, schiling.. was um himmels willen kommt da noch? :-/ |
Stakkato-Joe |
2017-04-20 11:19:27 Uhr
Klingt 1 zu 1 wie Element of Crime, und zwar Text und Musik. Aber trotzdem gar nicht schlecht, da EoC mittlerweile sehr müde und satt und lustlos klingen und dieses Album wie eine Frischzellenkur wirkt. 6,5/10 |
Spitzmausinchen |
2017-04-20 09:38:42 Uhr
Chnupfn |
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Referenzen
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