Wire - Silver / Lead
Pink Flag / Cargo
VÖ: 31.03.2017
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
Drahtdegustation
"Kann man Kunst schmecken?", möchten irgendwelche Piefkes neuerdings wissen, die mit dieser Frage auf Werbeplakaten belästigen, und eigentlich ist jeder schon vollkommen überfordert, dass von überall irgendwelche Fragen herkommen, die sowieso niemand zu beantworten vermag, dabei soll dieses Kunstschmecken eigentlich für Schaumwein werben, aber wer nicht mal eben in der Laune ist, an Ölleinwänden zu lecken oder seinem Vinyl zu knabbern, wird sowieso nicht in Erfahrung bringen, wie viel Umami in der Band Wire steckt. Ein wenig schade ist das schon. Wäre ja auch ein Ding: Das Geschmackslexikon britischer Musiker und Liam Gallagher würde für seinen Bruder Noel mal wieder "Kartoffel" vorschlagen. Bei Wire würde noch ein jeder Gastrokritiker in ein Parlando geraten, das den vier Dekaden Karriere und ihrem neuen Album, ihrem fünfzehnten, nicht gerecht werden könnte. Zumindest soviel vorweg: "Silver / Lead" schmeckt weit besser als die beiden übereifrig wirkenden, quasi-verkochten Vorgänger, bei denen einige gewillt waren zu fragen, ob Wire den Draht zu sich selbst verloren hätten. Gute Nachricht: Draht wiedergefunden.
"Nocturnal Koreans" und das selbstbetitelte Album hatten einen schwach-experimentelleren Ansatz, der offensichtlich schon von vielen psychedelischen Bands weit vorzüglicher austariert wurde. Weshalb niemand wusste, was sich Wire da antaten, wenn andere es soviel besser können, sollte man es tunlichst bleiben lassen. "Silver / Lead" versöhnt also. Die Gefahr dabei ist, das mit einer launigen Nostalgie zu verwechseln, moody nostalgia, wie gut und gerne Wires nächstes Best-of betitelt werden darf. "Pink flag" und "Chairs missing" lagen auf einmal da, wer es in den Siebzigern nicht miterlebt hat, erlebte es nach oder hörte zumindest, wie die Briten diese Dunkelkristalle züchteten, von denen niemand etwas ahnte, ihr Post-Punk uferlos, aber noch tragender: ihr Goth-Rock uferfern war und sie sich in einer eigenen Genremixtur suhlten. Live war das stets ein Ereignis. Die Einstürzenden Neubauten spürten es auch. Vor wenigen Jahren spielten beide Bands in einem Berliner Kraftwerk. Nur waren es nicht die Deutschen, die am brachialsten und lautesten gegen das Publikumsohr donnerten, es waren die Briten, die schrammten und bezwangen. Und halt nicht vor sich hin fermentierten.
"Silver / Lead" beginnt hypnotisch mit "Playing harp for the fishes". Das dudelt fein, stampft sachte. Bassist Graham Lewis croont sich inmitten von David Bowie, Iggy Pop und Lou Reed: "I was hoping for Heaven / I settled for hell." Die Himmel-Hölle-Dichotomie ist stets präsent bei Wire, auch wenn Synthesizer blubbern und sich einige Fuzzgitarre schichten, was dann eher an New Order erinnert. Das Mid-Tempo zieht sich hingegen durch die neun weiteren Songs. Und selbst einem energischeren Stück wie "Short elevated period" haftet eine Langsamkeit an. Wire verharren in ihren Songs. Leadsänger Colin Newman hat produziert, dass auch die kürzeste Gitarrennote verhallen darf und Wire sich in einem sehr puren, minimalen Klangraum bewegen. Dergestalt ist "An alibi" die grummelige Ballade alternder Punks, die sich in "Sonic lens" noch einmal krautrockig frei schlagen. Sie wollen nicht sinnbefreit vor sich her kraulen, da werden Wire heute lieber wieder eingängig. "Forever & a day", das Herzstück des Albums, besticht mit einer Gitarrenfigur aus kaum mehr als drei Riffs, die dafür kräftig strahlen. Wäre es so simpel, könnten es alle tun, aber dafür braucht es eben Wire. Ob es der Band genutzt hat, dass ihr neueres Mitglied Matthew Simms nun auch an den Songs mitschreiben durfte? Es hat nicht geschadet. "Silver / Lead" ist kunstvoll geraten. Wie das schmeckt? Am ehesten noch bleiern. Bleiern gut.
Highlights
- Forever & a day
- Sleeping on the wing
Tracklist
- Playing harp for the fishes
- Short elevated period
- Diamonds in cups
- Forever & a day
- An alibi
- Sonic lens
- This time
- Brio
- Sleep on the wing
- Silver / Lead
Gesamtspielzeit: 36:33 min.
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2017-04-04 10:14:15 Uhr - Newsbeitrag
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Referenzen
Colin Newman; Githead; H.A.L.O. Lewis; It Hugs Back; Slows; Gang Of Four; Ikara Colt; The Fall; These New Puritans; Fire Engines; Josef K; Orange Juice; Television Personalities; The Cure; XTC; Appliance; Tammar; Pere Ubu; Public Image Ltd.; Radio 4; The Futureheads; The Rakes; Hatcham Social; Black International; Joy Division; New Order; Weekend; DIIV; Motorama; Girls Names; Blur; Die Nerven; The KVB; The Soft Moon; The Durutti Column; Buzzcocks; Viet Cong; Mission Of Burma; Wipers; Disappears; Marching Church; Lower; The Pop Group; Swell Maps; The Infinite Three; The Sound; Magazine; Howard Devoto; Devo; Suicide; Pylon; Young Marble Giants; Prinzhorn Dance School; Talking Heads; Shriekback; Viva L'American Death Ray Music; A Certain Ratio; This Heat; Minimal Compact; He Said; Duet Emmo; Rip Rig & Panic; Fugazi; Richard Hell & The Voidoids; Section 25
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