Max Richter - Three worlds: Music from Woolf works

Deutsche Grammophon / Universal
VÖ: 27.01.2017
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Mit ihr die Stimmflut
Es beginnt mit dem Ende. Vorwärts leben, rückwärts verstehen, wie bei Kierkegaard. Bevor sie mit einem großen Steinklotz ins Wasser stieg, aus dem sie nicht mehr emporkommen würde, schrieb Virginia Woolf einen Abschiedsbrief an ihren Ehemann, der zweifelsfrei zum Liebevollsten zählt, was jemals eine Liebende in Worte gefasst hat. Sie könne nicht mehr kämpfen, könne sein Leben nicht weiter verschwenden, verdanke ihm alles Glück ihres Lebens. Aber: "Liebster, ich spüre mit Sicherheit, dass ich wieder verrückt werde." Diesen Brief hat nun "Akte X"-Schauspielerin Gillian Anderson eingesprochen, für "Tuesday" – langsam schwillt dieses Streicherelysium an, dehnt sich über 22 Minuten aus und zerberstet. Ein Maximum aus minimalen Mitteln, so nennt es Max Richter, selbst ein Woolf-Leser, ein sich in deren Büchern Vergrabener, der "Three worlds: Music from Woolf works" komponiert hat.
Es ist eine Klangschau für ein abendfüllendes Londoner Ballett, uraufgeführt in 2015. Orchestermusik, reine Vokalstücke für Sopranstimmen, Klangcollagen, elektronische Versatzstücke, Naturatmosphäre. Und eine rare Aufnahme von Woolf selbst, als würde sie schwach aus ihrer eigenen Geisterwelt raunen. Zeitlebens litt sie unter den vielen Stimmen, die in ihrem Kopf wuselten, die Richter nun übersetzt. Ein trauriges Herz blutet am Klavier von "In the garden", Synthesizer schwirren durcheinander für "Modular astronomy", Streicher verlieren sich im Hall von "Transformation". Jeder Song besteht aus den vielen Stimmen gleich Instrumenten, teils zusammenpassenden, teils völlig aneinander vorbei laufenden. Aufgenommen wurde das Deutsche Filmorchester Babelsberg, aber auch Solokünstler wie etwa Louisa Fuller an der Violine oder Ian Burdge am Cello. Wie bei Woolf ist es eine Gedankenflut, eine sprunghafte, in der alles noch so Nichtige wert genug scheint, mitgeteilt zu werden. Jetzt, Früher, Nachher schichten sich, bedeuten gleichwohl womöglich nichts.
Diese Flut, auch zu bewundern im Artwork, diese Welle strömt in aller Wucht der 16 Aufnahmen auf den Hörer zu. Mal verläuft sie synchron, mal asynchron. Hierdurch wird "Three worlds: Music from Woolf works" so imposant. Drei Welten sind es, weil drei Woolf-Romane, die neben ihren Tagebüchern und Briefen eingearbeitet wurden: "Mrs. Dalloway", "Die Wellen" und "Orlando". Wer sie kennt, weiß um die schier grenzenlose Üppigkeit der Satzgefüge, die Woolf da aufhäuft. Diese Sprache ist lyrisch, sie hat bereits eine ganz eigene Musikalität inne. Richter gelingt es, das zu verstehen, einzufangen, zu verarbeiten. Dafür entfesselt Richter auch "La folia", einen volkstümlichen portugiesischen Tanz, den er für passend hält, das Bild der Verwandlung in "Orlando" im Song "Transformation" einzufangen: Die Ausgelassenheit wird euphorisch, ekstatisch, lärmend und nähert sich dem Wahnsinn.
In einigen ihrer Briefe wird Woolfs Faszination für Musik deutlich. Sie hatte die Idee, dass Musik eine Form der totalen Expression sein kann, etwas, dem sie durch ihr Schreiben nur nachstreben konnte. Daher auch ihr Versuch, es zu imitieren. Sie schrieb: "I always think of my books as music before I write them." Denn Musik komme für sie, noch mehr als Literatur, der Wahrheit am nächsten. Es ist in keiner Weise anmaßend, davon auszugehen, dass Virginia Wolf von Max Richter schwer begeistert wäre.
Highlights
- In the garden
- Entropy
- The tyranny of symmetry
- Tuesday
Tracklist
- Words (Virginia Woolf)
- In the garden
- War anthem
- Meet again
- Memory is the seamstress
- Modular astronomy
- Entropy
- Transformation
- Morphology
- The tyranny of symmetry
- The explorers
- Persistence of images
- Genesis of poetry
- Possibles
- Love songs
- Tuesday
Gesamtspielzeit: 66:45 min.
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boneless Postings: 6214 Registriert seit 13.05.2014 |
2017-11-21 11:38:36 Uhr
2018 übrigens auf Tour:04.06.2018 Berlin, Philharmonie 05.06.2018 Frankfurt am Main, Alte Oper 06.06.2018 Bremen, Die Glocke Großer Saal 08.06.2018 Düsseldorf, Tonhalle 09.06.2018 Hamburg, Elbphilharmonie Über das, was er da spielen wird, scheinen momentan eher Gerüchte als Fakten zu kursieren. Infra wird wohl sicher aufgeführt, ansonsten gibt es Seiten, die Three Worlds texten, auf der Facebookseite des Gigs in Berlin stand zunächst From Sleep, was mittlerweile (leider!) in Blue Notebooks geändert wurde. Man lässt sich wohl am Besten überraschen. Wer die Vivaldi: Recomposed live erleben möchte, hat demnächst diese zwei Möglichkeiten: 17.12.2017 Frankfurt am Main, Alte Oper 19.06.2018 Zürich, Tonhalle Maag |
whitenoise Postings: 445 Registriert seit 17.06.2013 |
2017-08-30 18:33:02 Uhr
Habs gerade zum ersten Mal durchgehört. Wirklich sehr schön geworden, manchmal unerwartet elektronisch. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28503 Registriert seit 08.01.2012 |
2017-01-18 22:02:48 Uhr
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