Tim Bendzko - Immer noch Mensch
Columbia / Sony
VÖ: 21.10.2016
Unsere Bewertung: 3/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Trostbrot
Das Internet wirkt oft wie ein Autounfall. Aus Rücksicht aufs eigene Gemüt ist es fatal, täglich die Hass-Kommentare bei Facebook zu lesen – aus Neugier schaut man aber immer wieder hin. Ähnlich wie der Anstand beim Unfall das Gaffen verbieten sollte, verleitet er im Netz dazu, auf den Bullshit auch noch zu antworten. Dabei ist die Netzgemeinde gnadenlos. Ob lustig oder fies – das kommt wie so oft darauf an, auf welcher Seite man steht. Besorgt-Barde Xavier Naidoo hat da nicht nur rund um die altbekannte 2015er ESC-Sache Erfahrungen sammeln dürfen. Jüngst etwa, bei der simplen Ankündigung neuer Konzerte, hatten seine Hater erneut einen Feiertag. Tim Bendzko hingegen muss das nicht kümmern. Der lockige Vorzeige-Schwiegersohn zählt wie Naidoo derzeit zu den erfolgreichsten Popstars der Nation, hatte mit geballten Shitstorms aber bislang genauso wenig zu kämpfen wie mit mangelndem Erfolg. Geschweige denn müsste er sich um das Artikulieren irgendwelcher politischer Ansichten kümmern. Diese kommen in Bendzkos wehmütiger Behaglichkeit auch erst gar nicht vor.
Die Auskopplung "Keine Maschine" ist Paradebeispiel dafür, was den Hörer auf "Immer noch Mensch", dem dritten Bendzko-Album, erwartet. Oder besser: was Bendzko-Hörer von dessen Songs erwarten: Ein bisschen (Selbst)Mitleid, eine schunkelnde Umarmung, ein dick gebuttertes Trostbrot. Und ja, das alles liefert der Tim. Locker-flockig geschnippter Beat, Keyboard-Percussion, käsige Streicher. Und Bendzko knödelt, säuselt, jammert: "Ich bin ein Mensch / Keine Maschiiieene / Kann nicht nur funktioniiiee-ren / Ich leb von Luft und Fantasie." Hach, da plumpst die Last gleich hörbar von den Schulterpolstern. Auch das von Piano überklimperte und mit Streichern zugekleisterte "Hinter dem Meer" ist Befindlichkeits-Pop allererster Kajüte, der den Rückzug des ach so gebeutelten Individuums feiert. Und die verunsicherte Zielgruppe jubiliert. Erschlagen von täglichen Schreckensmeldungen und steigender Terror-Gefahr ist der Wunsch nach Altbewährtem, nach Abschottung und die Sehnsucht nach kleinbürgerlicher Sicherheit umso stärker. Gemeinsam lässt es sich eben gut resignieren. Umso schöner, wenn Bendzko die passende Musik dazu liefert.
Ob Worte, wie einst sein zweitgrößter Hit suggierierte, tatsächlich Bendzkos Sprache sind? Irgendwie schon, doch leider geht den seinigen, abseits des rein Lexikalischen, wie schon auf seinen vorherigen Alben zumeist die tiefere Bedeutung ab. Ok, bei Zeilen wie "Wir sind nur ein Paar / Aus Millionen / Aber immer noch Mensch" aus dem von James Blakes Fragilität inspirierten, aber mit der lyrischen Flachzange eines Andreas Bourani verbogenen Titelstücks, oder Ergüssen à la "Wir sind, wie wir sind / Sich verstellen hat keinen Sinn / Weil unser Spiegelbild bleibt, wie wir sind" aus dem schrecklich einfältigen "Wie wir sind", ist Nachdenken wohl auch nicht erwünscht. Das grauenvoll schmalzige "Sternenstaub" möge in selbigem ersticken. Selbst dann, wenn die Instrumentierung mal halbwegs passt, wie beim für Bendzko quasi schon experimentellen Opener "Beste Version", reizt der Songwriter das altbewährte Strophe-Refrain-Muster derart vorhersehbar aus, wie es sonst nur das plötzliche Explodieren eines Autos in RTLs "Alarm für Cobra 11" vermag.
So kompliziert die Welt gerade ist, so chaotisch Zwischenmenschliches sein kann – wenn Bendzko überhaupt mal wach wird, verlässt er sich auf Optimismus in Poesiealbum-Form. Ein Statement für Zwischenmenschlichkeit? Ein Appell gegen die Verrohung der Gesellschaft? Nicht Bendzkos Metier, es dreht sich fast alles um das Wohlstands-Ego. Damit passt der Ansatz, den "Immer noch Mensch" in aller Konsequenz durchzieht, wunderbar in die hiesige Pop-Landschaft: Während die Großstadt-Jugend die ähnlich rebellischen AnnenMayKantereit abfeiert, liefert Bendzko das Nebenbei-Gedudel für die Wahlveranstaltung der Jungen Union, für die melancholische "Landlust"-Abonnentin und den sensiblen Versicherungs-Vertreter, dem Helene Fischers Foxtrott zu wild ist. Tut keinem weh? Von wegen. Die Leidenszeit des Rezensenten mal außen vor, rät Plattentests.de zur Vorsicht: Wer labil, unbegründet besorgt oder begründet unzufrieden ist, an Herbst-Depressionen leidet oder gute Popmusik mag, für den ist Bendzkos gnadenlose Knödeltherapie nicht der richtige Ansatz. Aus Gemütsgründen, versteht sich.
Highlights
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Tracklist
- Beste Version
- Keine Maschine
- Reparieren
- Hinter dem Meer
- Immer noch Mensch
- Wie wir sind
- Leichtsinn
- Sternenstaub
- Winter
- Nicht das Ende
- Warum ich Lieder singe
Gesamtspielzeit: 39:35 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Wieso |
2016-11-01 00:16:19 Uhr
Ist Armin nicht der Ideale Schwiegersohn? Ich finde ihn sehr smart |
MopedTobias (Marvin) Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion Postings: 20152 Registriert seit 10.09.2013 |
2016-10-29 21:22:40 Uhr
Vielleicht, weil er es schon oft genug getan hat :p |
Mr Oh so Postings: 3228 Registriert seit 13.06.2013 |
2016-10-29 17:33:00 Uhr
Bosse aus dieser Aufzählung dringend rausnehmen. Der Mann kann gute Songs schreiben. Warum macht er es dann nicht mal? |
Superhelge Postings: 826 Registriert seit 15.06.2013 |
2016-10-29 17:01:51 Uhr
Es gibt also keine interessante deutschsprachige Popmusik???Hallo??? Kettcar, Kante, Tocotronic, Blumfeld, Fehlfarben, Element of Crime ... - anyone??? |
MopedTobias (Marvin) Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion Postings: 20152 Registriert seit 10.09.2013 |
2016-10-29 16:58:39 Uhr
@BDB: Bosse aus dieser Aufzählung dringend rausnehmen. Der Mann kann gute Songs schreiben. |
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Referenzen
Andreas Bourani; Adel Tawil; Xavier Naidoo; Mark Forster; Ich + Ich; Söhne Mannheims; Clueso; Pohlmann; Johannes Oerding; Philipp Poisel; Johannes Strate; Glasperlenspiel; Oli P.; Tiemo Hauer; Revolverheld; Tonbandgerät; Von Brücken; Klee; Bosse; Jupiter Jones; Philipp Dittberner; Maxim; Winson; Jan Plewka; Tele; Astra Kid; Der Junge Mit Der Gitarre; Zucker; Automat; Stoppok; Jupiter Jones; ClickClickDecker; Tomte; Marcus Wiebusch; Thees Uhlmann; Spaceman Spiff; Selig; Jack Johnson; John Mayer; Coldplay; James Blake
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