Locrian - Infinite dissolution

Relapse / Rough Trade
VÖ: 24.07.2015
Unsere Bewertung: 9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Zahlen, bitte!
Locrian werden von ihrem Label Relapse Records recht zielsicher als "Blackened-Avant Industrialists" etikettiert. Die Mühelosigkeit, mit der die drei Noise-Ingenieure aus Baltimore und Chicago Bestandteile extremer Stile ineinandergreifen lassen, verunmöglicht es nämlich, eine fundiertere Aussage über ihre Genre-Zugehörigkeit zu treffen und "Infinite dissolution" trennscharf von anderen Musikstilen abzugrenzen. In einem dreiviertelstündigen, eruptiven Tumult verhandeln Locrian das unausweichliche Aussterben der Menschheit und bedienen sich dabei ad infinitum der Extravaganzen von Black Metal, Drone, Industrial, Noise, Prog und Post Metal.
Locrian, 2005 gegründet, haben der bildlichen Komponente von Beginn an einen wichtigen Platz eingeräumt. Eine durchgängige Thematik in ihrem Schaffen ist der Verfall, dessen Darstellung nur in der Symbiose aus klanglichen und visuellen Aspekten umfassend sei. Locrians bisherige Artworks sind bestimmt von Orten, zu denen anscheinend niemand gehen will, wie auf "Return to annihilation", mithin von zerstörter Natur, in die keiner (mehr) gelangen kann, wie bei "Rain of ashes". Nun betrachtet man ein in seiner Überbelichtung fast klinisches Fantasie-Gebilde, dessen gleißende Spiegelungen den Zutritt vollends verstellen: "The Eye", eine Abbildung der im Jahre 2008 aus Holz und Spiegeln zusammengesetzten Skulptur von David Altmejd. Diese großformatige Installation richtet die Perspektive dem Titel nach punktuell auf ein Detail. Erst bei näherer Betrachtung sticht das Unperfekte hervor, unscheinbare Risse und Löcher in den Spiegelflächen bleiben zunächst verborgen.
Die Musik tut es dem Bild gleich, indem sie genauso überfordernd ist wie sie überbordend wirkt vor energischer, existenzialistischer Anspannung, die das innere Auge assoziationsreich bebildert. Die Gestaltung des Covers stellt den visuellen Reiz dar für die splitternden und scharfkantigen Klänge, die ebenso weit draußen und außerhalb jeglicher Kategorisierung schweben wie die geschrienen Texte unverständlich bleiben. Nur ein einziges Mal lässt sich Terence Hannum zu cleanen Vocals herab: Nach sechseinhalb Minuten drosselt "An index of air" die Geschwindigkeit und kommt in Sachen Stimmung und vor allem Intonation dem elegischen Abschluss "Wretched world" von Converges "Axe to fall" nahe. Ansonsten wirkt es, als habe Hannum dem Aufnahmeprozess in weit entfernten Kellerkatakomben oder einer Dunkelkammer beigewohnt. Seine Schreie verhallen so weit im Hintergrund, dass es wie eine weitere Textur unter den zahlreichen Synthie-, Schlagzeug- und Gitarrenspuren erscheint.
Die erste Hälfte von "Infinite dissolution" ist gleichsam umspannt von einem helltönenden und vollen Gitarrenklang, dessen reduzierter Ausdruck auf Pointen zielt, die trotz mehrfacher Wiederholung nicht an Prägnanz einbüßen. Wie in "Dark shales", in dem sich André Foisys Gitarreneinsatz zunächst einer fast überbetonten Art von Metal-Solo hingibt, welches sich zum Ende hin in ein stilles wie effizientes Gitarrenmotiv verwandelt. Wie aus einem Guss erfolgt nach einem kurzen Tribal-Trommeln die sofortige Zurückgenommenheit und erfüllt innerhalb des Stücks die gleiche Funktion. Angeführt von der Gitarre und dem häufigen Einsatz verschiedener Moog-Synthesizer entwickelt sich ein strukturierterer Albumfluss als auf früheren Veröffentlichungen. Der homogene Gesamteindruck begründe sich dadurch, dass Locrian ihren Hang zur Improvisation deutlich verringert haben, wie Drummer Steven Hess im Interview angibt.
Das übergeordnete Narrativ von "Infinite dissolution" verfängt spätestens in der zweiten Hälfte. "KXL II" erwächst aus einer stillen Einkehr aus sich überlagernden, synthetischen Streicher-Loops, welche einerseits angenehm von Vogelgezirpe begleitet werden. Andererseits bleibt selbst diese kurze Phase der Ruhe aufgrund subtiler Störfrequenzen ungenutzt. "The great dying" mündet nach einem schwerfälligen, karg instrumentierten Beginn nach viereinhalb Minuten in ein von einem wuchtigen Schlagzeug-Rhythmus dominiertes Finale, welches mit Erica Burgner-Hannums Choral und einer damit verwobenen Gitarrenfigur zu instrumentaler Schönheit anwächst. Das nachfolgende "Heavy water" nimmt die sich zuvor entwickelte Entspannung gleichmütig auf, indem wabernde Keyboardklänge auch dann noch von einer beruhigenden Gitarre getragen werden, wenn Schreie und grollendes Schlagzeug wie nebenher zu einem fatalistischen Appell ansetzen: "Cease to grow / Start to dissolve", die letzten Worte auf "Infinite dissolution". "KXL III" erinnert abschließend an Tim Heckers Säbelrasseln mit seiner verfremdeten, aggressiven Orgel auf "Ravedeath, 1972", und demaskiert die angedeutete Ruhe spätestens dann als endgültige Kapitulation.
Bei aller apokalyptischen Verzerrung, mit der Locrian der Menschheit die Lampen ausknipst, kann man kaum darauf hoffen, dass dem auf "Infinite dissolution" offenbarten tiefschwarzen Anti-Humanismus dennoch eine Umkehr innewohnt. Auf die Natur bezogen hat der Mensch bereits irreversible Schäden verursacht, was auch von den Lyrics in "Dark shales" behandelt wird: "Nemesis in our soil / Our air / Our water." Die Quittung kommt.
Highlights
- Dark shales
- The future of death
- An index of air
- The great dying
- Heavy water
Tracklist
- Arc of extinction
- Dark shales
- KXL I
- The future of death
- An index of air
- KXL II
- The great dying
- Heavy water
- KXL III
Gesamtspielzeit: 47:29 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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zombye Postings: 50 Registriert seit 18.07.2022 |
2022-08-23 09:56:49 Uhr
Also das Neue. |
zombye Postings: 50 Registriert seit 18.07.2022 |
2022-08-23 09:56:32 Uhr
Schon sehr, sehr sehr gediegen. Brauch definitiv viele Durchgänge. |
Hierkannmanparken Postings: 1991 Registriert seit 22.10.2021 |
2022-08-12 10:50:02 Uhr
Nice! Höre es mir gerade an. Klingt nach einem Fall für Klaus! :) |
zombye Postings: 50 Registriert seit 18.07.2022 |
2022-08-11 20:02:11 Uhr
Morgen neues Album ("New Catastrophism")! |
Demon Cleaner User und Moderator Postings: 5646 Registriert seit 15.05.2013 |
2015-12-08 10:03:42 Uhr
Muss ich noch mal wieder rauskramen, wo der Poll auch bald ansteht.Den Spannungsaufbau im Opener find ich riesig. |
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Referenzen
Menace Ruine; Horseback; Mamiffer; Pyramids; Liturgy; Ulver; The Haxan Cloak; Wolves In The Throne Room; SunnO))); Gnaw; Godflesh; Current 93; Zombi; Gnod; Prurient; AUN; Wolvserpent; Converge; Year Of No Light; Corrections House; KTL; Fantômas; Ben Frost; The Locust; The Melvins; Barn Owl; Oiseux-Tempête; Godspeed You! Black Emperor; Oranssi Pazuzu; Terra Tenebrosa; Oren Ambarchi; Obake; Eagle Twin; Neurosis; Altar Of Plagues; Emptyset; Oneirogen; Russian Circles; Christoph Heemann; Voivod; Emperor; Einstürzende Neubauten; Skullflower; Brian Eno; Pharmakon; Kayo Dot; Tim Hecker; Grails; Black Shape Of Nexus; Lightning Bolt
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