Steven Wilson - Hand. Cannot. Erase.

Kscope / Edel
VÖ: 27.02.2015
Unsere Bewertung: 9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Hinter. Grund.
Eine der herausragenden Eigenschaften von Steven Wilson – einmal davon abgesehen, dass er ein brillanter Musiker ist – ist seine Bescheidenheit. Insbesondere das übliche Ballyhoo vor Plattenveröffentlichungen ist dem geradezu schüchtern wirkenden Engländer zutiefst fremd: Er liefert einfach. Insofern war es durchaus erstaunlich, dass Wilson im Vorfeld zu seinem vierten regulären Soloalbum "Hand. Cannot. Erase." nicht nur per YouTube die für ihn üblichen tiefen Einblicke in die Studioarbeit gewährte, sondern gleichzeitig ankündigte, er wolle mit dieser Platte nicht weniger als die stilistische Bandbreite seiner kompletten Karriere abdecken. Gleichzeitig veröffentlicht Wilson mit "Perfect life" einen Song, der mit seinem Elektro-Touch und vor allem den weiblichen Sprechgesang so ganz anders ist als das, was man bisher von ihm kannte. Ein Widerspruch? Oder hebt Wilson jetzt komplett ab?
Natürlich nicht. Denn die Erfahrung zeigt, dass man bei Wilson niemals den Fehler machen darf, eine Platte anhand einzelner Songs oder gar vorab gestreuter Fragmente zu beurteilen. Und bereits nach wenigen Durchläufen wird klar: Steven Wilson hat nicht mehr und nicht weniger als ein Meisterwerk geschaffen, nach dem zunächst widerborstigen, später zutiefst fesselnden "The raven that refused to sing (And other stories)" erneut ein Album für die Ewigkeit. Doch der Reihe nach. Sanfte Pianoklänge eröffnen "Hand. Cannot. Erase." – nur dass hier überhaupt nichts sanft, rein gar nichts wirklich beruhigend ist, wie die drohenden Beats und später das scharfe Eröffnungsriff des nahtlos folgenden "3 years older" zeigen. Denn hinter diesen Pianoläufen, Wilsons entrücktem Gesang und einem geradezu wahnwitzigen, aber höchst virtuosen und dabei nie verkopfte Instrumentalteil verbirgt sich bittersüße Melancholie, die sofort gefangen nimmt. Und nie wieder loslässt. Aufwühlt.
Genau diese Ambivalenz, diese Abgründe ziehen sich wie ein roter Faden durch Wilsons Karriere. Untermauert durch die reale Story, die "Hand. Cannot. Erase." zugrunde liegt: Anfang 2006 wird eine Frau namens Joyce Carol Vincent in ihrer Londoner Wohnung tot aufgefunden – nach mehr als zwei Jahren. Das alleine ist schon tragisch genug, doch Vincent war nicht etwa eine vereinsamte alte Dame, sondern stand als Unternehmensberaterin mitten im Leben. Genau hierin begründet sich der scheinbare Widerspruch, der vermeintliche stilistische Bruch des Titeltracks – allzu oft trügt der Schein hinter einem vermeintlich glücklichen Leben, allzu oft befinden sich hinter der Fassade tragische Schicksale, die in der Einsamkeit der Großstadt unentdeckt bleiben. Und plötzlich schlägt "Perfect life" mit voller Wucht zu, lässt jeden empathiefähigen Hörer, der sich auf diese Reise wagt, fassungslos und ergriffen zurück.
Doch Wilson macht nicht den Fehler, "Hand. Cannot. Erase." weinerlich oder effekthaschend wirken zu lassen. Im Gegenteil, immer wieder streut er wütende Ausbrüche ein wie das zickige "Home invasion", aber auch diverse Metal-Eruptionen wie in "Ancestral". Vor allem aber gelingt es ihm, dass anders als beim in der Rückschau zu verkopft geratenen Porcupine-Tree-Album "The incident" die einzelnen Songs zwar wie aus einem Guss sind und am besten im Album-Kontext wirken, aber dennoch ihre Eigenständigkeit bewahren können. Mehr noch, alleine ein Stück wie eben "Ancestral" zündet ein wahres Feuerwerk an Inspiration, an Spielfreude und Virtuosität und dient bereits für sich genommen als Blaupause für modernen Progressive Rock, der seine Wurzeln nicht verleugnet, dabei jedoch im Sinne der Genre-Definition neue Maßstäbe setzen will. Jene Maßstäbe setzt Steven Wilson mit "Hand. Cannot. Erase." allemal. Vordergründig zugänglich, verbergen sich in Analogie zur Hintergrundgeschichte mit jedem Durchlauf neue Facetten, neue Schichten, die erarbeitet werden wollen. Jede Note, jeder Akkord ist exakt so gewollt und ergibt einen Sinn im Gesamtkontext. Wilson ist und bleibt einer der kreativsten Musiker dieser Zeit, ein großartiger Künstler – mit dieser Platte setzt er sich endgültig sein eigenes Denkmal, für das jeder Superlativ eine Beleidigung wäre.
Highlights
- 3 years older
- Hand cannot erase
- Home invasion
- Ancestral
- Happy returns
Tracklist
- First regret
- 3 years older
- Hand cannot erase
- Perfect life
- Routine
- Home invasion
- Regret #9
- Transience
- Ancestral
- Happy returns
- Ascendant here on...
Gesamtspielzeit: 65:50 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Furchtbonbon Postings: 13 Registriert seit 12.01.2023 |
2023-04-25 19:53:02 Uhr
Das stimmt Pivo, mit der Zugänglichkeit beschreibst du das Album total gut. Da bin ich ganz bei dir. Und gleichzeitig hat es ernste und leichte Momente. Auch so weiche verspielte Melodien. Ach ich mag es immer noch. |
Pivo Postings: 1126 Registriert seit 29.05.2017 |
2023-04-25 17:41:15 Uhr
Mal abwarten was kommt. Elektro kann SW in meinen Augen auch ganz ordentlich. So fand ich King Ghost einen der Lichtblicke auf TFB. Wenn er das Niveau auf Albumlänge hätte halten können.... Naja. In jedem Fall war auch der Song of I auf TTB echt gut. Er kann es doch (noch). Jetzt muss er halt auf Albumlänge liefern. |
Lateralis84skleinerBruder Postings: 635 Registriert seit 03.03.2019 |
2023-04-25 17:03:40 Uhr
Werden wir sehen, wohin er sich bewegt. Wenn er sagt, die Elektronik interessiert ihn aktuell sehr - dass sein neues Album fast ausschließlich auf diesem Fokus entstanden ist, könnte ich mir auch vorstellen ein HCE im Berliner Schule Stil zu bekommen. Kann natürlich genauso noch „poppiger“ werden. Soll er mal machen. Die letzte Porcupine Tree wirkte für mich zum allerersten Mal nach einem Kompromiss und lediglich Zwischenschritt in seiner Entwicklung |
Gomes21 Postings: 4567 Registriert seit 20.06.2013 |
2023-04-25 15:09:24 Uhr
Ich sehe das Problem bei ihm überhaupt nicht darin, dass er sich vom Prog wegbewegt, zumindest nicht von diesem verstaubten 70er Prog, sondern eher, dass er es nicht konsequent und nicht gut genug macht. Er benutzt für Pop sein gleiches Wilson-Schema und kommt mir sehr festgefahren vor. Es würde ihm guttun mal einen Teil der Albumproduktion aus der Hand zu geben. |
Pivo Postings: 1126 Registriert seit 29.05.2017 |
2023-04-25 11:46:40 Uhr
Für mich ist HCE nach wie vor ein 10er-Album. Ich höre es zwar nicht mehr so oft, aber wenn dann geht es mir ähnlich wir #Fruchtbonbon. Es bewegt mich noch, und das schaffen nach so vielen Jahren nicht viele Alben.Ich finde HCE ist einfach zugänglich genug um auch Einsteiger in den Prog (so wie damals mich) einzuführen, aber gleichzeitig abwechslungsreich, spannend und gewaltig genug um auch langfristig zu begeistern. Seine Werke davor wie das auch oft hochgelobte "Grace..." sind mir stellenweise, gerade am Anfang meines Prog-Hörens, zu anstrengend und zu verkopft gewesen (bis auf manche Einzelsongs). Daher war HCE einfach die perfekte Symbiose aus einfach geilem Rock/Prog und aber auch einer gewissen Massentauglichkeit. Leider hat er sich danach immer mehr auf die Massentauglichkeit zu bewegt und, gerade mit "The Future bites" komplett weg vom großen Bereich der Rockmusik, was ich sehr bedauert habe. Nachdem er sich nun am Prog nochmal mit PT ausgetobt hat, vermute, oder besser gesagt, befürchte ich, dass sein nächstes Soloalbum den geneigten "Altfan" eher auf eine harte Probe stellen wird. Aber warten wir es ab, vielleicht kommt da nochmal was gutes. Dieses Jahr soll wohl sein neues Soloalbum erscheinen. Zumindest wurde es in dem ein oder anderen Interview so angedeutet. |
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Referenzen
King Crimson; Yes; Genesis; Emerson, Lake & Palmer; Pink Floyd; Steve Hackett; Blackfield; No-Man; Porcupine Tree; Storm Corrosion; Riverside; Lunatic Soul; Richard Barbieri; Gazpacho; Nosound; OSI; Chroma Key; Demians; Amplifier; Oceansize; It Bites; North Atlantic Oscillation; Paatos; Anathema; Sigur Rós; Archive; Aereogramme; Antimatter; Quidam; Gentle Giant; Van Der Graaf Generator
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