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Gravenhurst - Flashlight seasons / Black holes in the sand / Offerings: Lost songs 2000–2004

Gravenhurst- Flashlight seasons / Black holes in the sand / Offerings: Lost songs 2000–2004

Warp / Rough Trade
VÖ: 28.11.2014

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 6/10

Mind the gap

Nick Talbot aka Gravenhurst kam zum Jahrtausendwechsel eigentlich genau richtig zur damals neuesten Chimäre der Musik-Presse, je nach Staatsangehörigkeit bezeichnet als "New acoustic movement" oder "Quiet is the new loud". Mitmachen durfte er hier zwar nicht so wirklich, Kritikerliebling wurde er aber dennoch, beziehungsweise sogar einer von jenen, bei denen der Abstand zwischen journalistischen Lobeshymnen und Ignoranz der potentiellen Hörerschaft legendär zu werden drohte. Dabei schien Talbots Musik das Motto der neuen Bewegung genau auf den Punkt zu bringen: Nicht nur Folkpickings, Tamburin-Takte, Glockenspiel und Mundharmonika, sondern auf späteren Veröffentlichungen auch immer mehr Feedback und atmosphärisches Frequenz-Gerümpel schwebten federleicht durch seine Songs und erzeugten so eher ein hintergründiges Beben als rote Zornesadern oder wachsweiche Harmonie. Vielleicht war spätestens das dann aber doch zu viel Slowcore, um die Kings Of Convenience beim Hausfrauenkittel zu packen. Denn in der Tat tranken Talbots Songs statt Latte macchiato lieber wild aufschäumende Seelensuppe, blieben dabei aber in guter alter English-Folk-Tradition Sozialdokumentaristen und nicht etwa einsame Cowboys.

Aus dieser Zeit der Konsolidierung und des Übergangs sowohl in der Musiklandschaft als auch bei Gravenhurst veröffentlicht Warp nun ein Paket aus ihrem Zweitwerk "Flashlight seasons", der Folge-EP "Black holes in the sand" sowie weiteren Songs und Demos aus eben jenem Zeitfenster. Und mit Talbots plötzlichem Tod Anfang Dezember wird diese Zusammenstellung noch mehr zu Seelenschau und Dokumentation als ohnehin schon. Denn eben solche gab es bereits auf "Flashlight seasons", doch erst mit "Black holes in the sand" wurden sie zu einem noch zaghaften Neuaufbau umgearbeitet. Eine EP als Versuchsfeld, sowohl in sich perfekt als auch auf dem Sprung, die Talbot keineswegs direkt, doch konsequent zu dem indierockenden Midtempo von "The velvet cell" führen konnte – neben dem hervorragenden Cover von Hüskers Düs "Diane" wohl nach wie vor Gravenhursts bekanntester Song. Heuer muss man sagen: Nur sehr selten macht ein Reissue-Paket derart viel Sinn wie dieses. Eine Entwicklung nicht nur dokumentierend, sondern auch kongenial zum Abschluss bringend. Ob die "Offerings" das als Solo-Veröffentlichung hinbekommen hätten, darf zumindest mit ein paar Fragezeichen versehen werden.

Passend zu den atmosphärischen Staubwolken von "Black holes in the sand" zieren ungewöhnlich viele Instrumentals diese "Lost songs": Ganze vier Mal hatte Talbot entweder nicht die Kraft oder die Zeit, um seinem lyrischen Ich die Sporen zu geben. Zwar benötigen weder die herumdüsternden Soundscapes, Orgeltupfer und halbresonierenden Gitarren von "Who put Bella in the wych elm?" und "Abilene / Still water outro" noch die klassischen Picking-Figuren von "For Erin" und "Return to Stapleton Road" irgendeine weitere, stimmliche Zutat – allerdings spielt sich zwischen diesen beiden Polen auch die Dramatik von "Offerings: Lost songs 2000–2004" ab: Kaum derart melancholisch dicht wie "Flashlight seasons" und keineswegs so abgründig wie "Black holes in the sand", sind sie eine perfekte Zutat, während man Album und EP auch in ihrem Angesicht anhört, dass hier nichts gefehlt hat oder jemals fehlen wird.

Was aber eben rein gar nichts mit der Güte der Songs selbst zu tun hat, nachzuhören etwa bei "Entertainment": In dessen Demo-Version fährt keinerlei Feedback, der Konterbass wird nur leicht angezerrt, der Beat mit dem Besen gestrichen. Doch je kleiner das Arrangement, umso mehr Kraft zieht Talbot eben aus den Gitarrenmelodien und seinem mehrstimmigen Gesang, der immer wieder klingt, als könne man tatsächlich in die Sterne gucken und den Kopf zugleich begütend zur Schulter neigen. Und auch wenn das Ende von "Offerings" mit einem harsch abgestoppten Akkord einmal mittendurch bricht, so steht das weniger prototypisch für den Skizzencharakter des Songs als vielmehr für die untergründige Bissigkeit, die Gravenhursts Musik trotz allen Wohlklangs immer schon ausgezeichnet hat.

Seit diesem Jahr jedoch steht es ebenso für Talbots Ableben, mit allen Vokabeln, die es für sich beansprucht: plötzlich und unerwartet; ohne großen Knall, doch mit schockierendem Hüpfen über den Herzklappen; unverdient, in der Rückschau allerdings auf beinahe obszöne Weise konsequent. Denn letztlich erscheint der Tod ja erst retrospektiv unausweichlich, ist es in Wahrheit aber von vornherein – herzzerreißend für alle anderen, hilf- und nutzlos für jeden einzelnen. Und in genau dieser verflixten Lücke sitzt die Erinnerung als letztlich einziger Hoffnungsschimmer. Was für Gravenhurst bedeutet: Obwohl oder gerade weil Talbot nie den allergrößten Popularitätssprung hingelegt hat, besitzt er eine Welt voller Menschen, von denen einige auch noch mit 90 Jahren zu einem seiner Songs denken werden, wie wichtig es war, diesen Menschen und seine Musik gekannt zu haben. Wen und wo auch immer das jetzt noch nützen soll: Es ist beinahe mehr, als man wünschen kann. Kein Trost, keine Genugtuung – aber doch der Beweis, dass es Leben gibt in der verflixten Lücke zwischen retrospektiv und von vornherein.

(Tobias Hinrichs)

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Highlights

  • Fog round the figurehead
  • The diver
  • Hopechapel Hill
  • Black holes in the sand
  • Still water
  • The citizen
  • Entertainment (Demo)
  • Offerings

Tracklist

  • CD 1
    1. Tunnels
    2. Fog round the figurehead
    3. I turn my face to the forest floor
    4. Bluebeard
    5. The diver
    6. East of the city
    7. Damage
    8. Damage II
    9. The ice tree
    10. Hopechapel Hill
  • CD 2
    1. Black holes in the sand
    2. Flowers in her hair
    3. Still water
    4. Winter moon
    5. Diane
    6. Flashlight seasons
  • CD 3
    1. The citizen
    2. Entertainment (Demo)
    3. The diver
    4. Who put Bella in the wych elm?
    5. Gas mask days
    6. Romance
    7. For Erin
    8. Abilene / Still water outro
    9. Offerings
    10. Return to Stapleton Road

Gesamtspielzeit: 125:10 min.

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