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Einstürzende Neubauten - Lament

Einstürzende Neubauten- Lament

BMG / Rough Trade
VÖ: 07.11.2014

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Von den Barrikaden

2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Dies ist Anlass für zahllose Gedenkveranstaltungen und Symposien, und natürlich auch Impulsgeber für viele künstlerische Projekte, die sich mit dem großen Krieg auseinandersetzen. Die belgische Kleinstadt Diksmuide, die während des Weltkriegs vollständig zerstört und nach 1918 wieder aufgebaut worden war, beauftragte die deutschen Industrial-Pioniere Einstürzende Neubauten mit der musikalischen Gestaltung der Ausstellung "Against the neglection: Gone west – the fall of Diksmuide 1914-2014". Das so entstandene Werk, welches unter dem Titel "Lament" erscheint, nimmt deshalb eine Sonderposition in der Diskographie von Einstürzende Neubauten ein. Nicht als reguläres Album sei "Lament" zu verstehen, sondern als Dokumentation von Performance und Installation, welche gleichermaßen im November 2014 in Diksmuide uraufgeführt werden.

Auf "Lament" vereinen sich Elemente aus beinahe allen Schaffensperioden der Berliner. Die geräuschvolle Frühphase ruft sich beispielsweise metallisch kreischend im Eröffnungsstück "Kriegsmaschinerie" in Erinnerung. Das aus alten Aufnahmen zusammengesetzte Stück muss sich in Sachen infernalischer Ohrenschädigung nicht vor den wüsten Collagen der "Kollaps"-Ära verstecken. Den so aus dem Gleichgewicht gebrachten Hörer erwartet danach eine perfide Überraschung: "Hymnen" kombiniert die Kaiserhymne "Heil Dir im Siegerkranz" mit ihrem englischsprachigen Pendant "God save the King", wobei Blixa Bargelds pathetische Intonation den Nihilismus solcher musikalischen Obrigkeitshuldigungen entlarvt. Zum Ende weicht das Pathos purer Häme, da statt der Originaltexte die Verse einer berühmten Parodie der Hymne erschallen.

Nicht minder kopfgesteuert, aber gänzlich ideologiebereinigt ist der mit 13 Minuten Spielzeit längste Track "Der 1. Weltkrieg (Percussion version)". Jedes Schlaginstrument entspricht hier einer der Kriegsparteien, jeder Grundschlag wiederum einem Kriegstag. Nach und nach verdichtet sich so der Rhythmus zu einem monotonen, aber tanzbaren Geflecht, dem durch eingestreute Kommentare Bargelds ("Austria. Serbia. Germany. Russia.") Struktur verliehen wird. Je länger das Geklöppel dauert, desto anstrengender wird es – und das ist gut so. Denn nicht romantisierte Verkunstung treibt "Lament" voran, sondern im Geiste Brechts durchgeführte Verfremdungsversuche. So greifen zwei Stücke Texte des flämischen Expressionisten Paul van den Broeck auf, während unheilvolle Geräusche verhindern, dass sich so etwas wie gedenkende Heimeligkeit breitmachen kann. Ähnlich verfährt das krude "The Willy – Nicky telegrams". Bargeld und Hacke rezitieren in einem autogetunten Singsang Telegramme des deutschen Kaisers Wilhelm II. und des russischen Zaren Nikolaus II., was die diplomatischen Sticheleien der beiden Herrscher der Lächerlichkeit preisgibt.

Im Zentrum des Albums steht allerdings das in drei Teile gegliederte Titelstück. Das Lament als Musik gewordene Trauer ist in fast allen Kulturen der Welt zugegen, besonders das Klagelied nimmt in vielen Trauer- und Begräbnisriten eine prominente Position ein. Dieser Idee folgen Einstürzende Neubauten, indem sie zunächst sich zu einem Chor zusammenfügende Einzelstimmen gegeneinander ansingen lassen, ehe die meditative Stimmung jäh von an Kanonenschläge erinnernden Maschinensounds zerfetzt wird. Das Finale "Pater peccavi" greift wiederum die Idee der Stimmencollage auf: Zu ätherischem Geigenspiel erklingen alte Wachszylinderaufnahmen, die von Kriegsgefangenen stammen. Dem Wirrwarr des bewaffneten Konflikts entspricht hier der Wirrwarr der Sprachen und Dialekte. Aus der Ferne der Geschichte rezitieren die Menschen Bibelverse, was eine ebenso unangenehme wie faszinierende Spannung erzeugt.

Bei aller Verfremdungslust und Intellektualisierung bleibt aber auch Zeit für Momente simpler Schönheit und Einkehr. Die hymnische Pianoballade "How did I die?", die in Teilen auf einem Text Kurt Tucholskys basiert, setzt einen berührenden Kontrapunkt zu den der Kategorie "Hirnlego" zugehörigen Stücken. Und auch das Experiment, Pete Seegers eigentlich kaputtgecovertes "Where have all the flowers gone" bis aufs Skelett zu entkleiden, kann als gelungen bezeichnet werden. "Lament" mag verkopft wirken, seine konzeptionelle Dichte und musikalische Vielseitigkeit macht es jedoch zu einem der aufregendsten Einstürzende-Neubauten-Alben überhaupt. Gerade weil die üblichen Themen Bargelds in den Hintergrund treten, kann sich die kompositorische Meisterschaft der Band frei entfalten. Egal, ob wüste Klangcollage oder bewegender Chanson: Einstürzende Neubauten können und dürfen mittlerweile fast alles.

(Christopher Sennfelder)

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Highlights

  • Der 1. Weltkrieg (Percussion version)
  • Lament: 3. Pater peccavi
  • How did I die?

Tracklist

  1. Kriegsmaschinerie
  2. Hymnen
  3. The Willy – Nicky telegrams
  4. In de Loopgraf
  5. Der 1. Weltkrieg (Percussion version)
  6. On patrol in no man's land
  7. Achterland
  8. Lament: 1. Lament
  9. Lament: 2. Abwärtsspirale
  10. Lament: 3. Pater peccavi
  11. How did I die?
  12. Sag mir, wo die Blumen sind
  13. Der Beginn des Weltkriegs 1914 (unter Zuhilfenahme eines Tierstimmenimitators)
  14. All of no man's land is ours

Gesamtspielzeit: 72:39 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Christopher

Plattentests.de-Mitarbeiter

Postings: 3576

Registriert seit 12.12.2013

2014-11-11 12:04:16 Uhr
der percussiontrack funktioniert aber durchaus musikalisch. nur weil man ein stück auf dem reißbrett entwirft, heißt das ja nicht, dass es schrecklich klingen muss.
i hate
2014-11-11 11:50:03 Uhr
Wicksa Bargeld.

EN sind für vermeintliche Intelligenzbestien so etwas wie Keimzeit für die Pseudohippies
lamento
2014-11-09 17:29:59 Uhr
captain kidd hat wohl noch nie ähnlich geschichtsträchtige neubauten-werke wie "haus der lüge" oder "tabula rasa" gehört, dann würde er auch nicht (wieder) so einen scheiß erzählen.

noise

Postings: 968

Registriert seit 15.06.2013

2014-11-09 10:47:32 Uhr
Es handelt sich - meines Wissens - bei der "Lament" um eine Auftragsarbeit. Also, nicht unbedingt ein reguläres Neubauten Album.
Aber, wenn nicht die wer sonst könnte solch ein Thema überhaupt musikalisch umsetzen? Ob es denn einem gefallen muss, sei dahingestellt.

MM13

Postings: 2354

Registriert seit 13.06.2013

2014-11-09 10:08:04 Uhr
das die neubauten nicht einfach sind dürfte sich inzwischen herum gesprochen haben.so ein thema musikalisch umzusetzen kommt vielen wahrscheinlich eh idiotisch vor,aber wer sich mit den neubauten länger befasst weiss das das nichts aussergewöhnliches ist.als "normales"oder gar einsteigeralbum eignet sich lament sicher nicht.
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