Niels Frevert - Paradies der gefälschten Dinge

Grönland / Rough Trade
VÖ: 22.08.2014
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Glaube braucht keine Landebahn
"Das ist die Chance meines Lebens", erkennt Niels Frevert leicht sarkastisch in "Ufo" auf seinem neuen Album "Paradies der gefälschten Dinge". Frevert berichtet von seinen Beobachtungen während des Kirchentags in Hamburg. Alle sind happy, teilen, singen zusammen – "so will ich auch sein", singt Frevert. Schließlich landet ein Ufo, und ein Mann, der aussieht wie "eine Mischung aus Jesus und James Dean" tritt ins Geschehen. Dieses Lied hat so einen Witz, so einen Charme, am liebsten würde man an dieser Stelle den kompletten Text abtippen und für sich allein stehen lassen. Wie der Hamburger mit der larmoyanten Stimme es immer wieder schafft, die witzigsten bis dramatischsten Alltagsbegebenheiten zu besingen, ohne dabei eine Miene zu verziehen, ist bekannt – "Paradies der gefälschten Dinge" ist bereits das fünfte Solowerk des Sängers nach seiner Zeit mit Nationalgalerie.
Es ist nicht nur der trockene Humor aus "Ufo", der Frevert auszeichnet, es sind auch die tiefgängigen Lieder, die trotz aller Traurigkeit nicht ins Jammern verfallen. Manchmal erscheint der Mann wie ein Cowboy, standing straight, ohne Emotion wahrnehmend und beschreibend, dann aber mit der Pistole im Anschlag, wenn es gilt anzuprangern. Die Ernsthaftigkeit seiner Themen schwingt immer mit, schon allein durch die Intonation, nur ganz selten verliert Frevert die Contenance, dann aber ganz gezielt und vor allen Dingen auch ganz ehrlich. In "Schwör" zeigt der Barde seine andere, seine verletzliche Seite, sein empathisches Geschick: "Los schwör", fordert ihn sein Gegenüber am Telefon auf, "Du weißt ja gar nicht, wie das ist hier", fügt es an. Frevert macht Mut: "Du kommst da lebend raus" und "ich bin bei Dir." Die Geigen kollabieren in ihrer eigenen Dramatik fast, aber der Hoffnungsschimmer bleibt.
In "Das mit dem Glücklichsein ist relativ" umgarnen Bläser Freverts Stimme, der sich gerade bei einem Rendezvous befindet. Er verhaspelt sich, fällt über seine eigenen Füße, doch dann "plötzlich wird meine Hand von Deiner gehalten / Plötzlich will ich irgendwann mal alt werden." Es ist der perfekte Tag im Leben eines Menschen, der seine eigene Unperfektheit akzeptiert hat. Kettcar sangen von Audrey Hepburn und Balu dem Bär, Frevert scheint eher Bahnromantiker zu sein: Mit "Speisewagen" kreiert er feinsinniges Liebeslied. "Du bist erste Klasse, ich bin zweite", heißt es da im Kontext des Schienenverkehrs. Der Closer "Loch in der Atmosphäre" wird über weite Strecken einzig von einer gezupften Gitarre begleitet. Frevert redet mit einer Person, die befürchtet, unwillkürlich zu entfleuchen. Der Hamburger aber versucht, sie mit Bedacht vom Gegenteil zu überzeugen: "Ich finde, Du bist zu streng mit Dir / ... / Du bist doch nicht das Loch in der Atmosphäre." Das Stück schließt den Spannungsbogen des Albums und lässt den Hörer nachdenklich und gewillt zum nächsten Hördurchlauf zurück.
"Glaube braucht keine Landebahn", steht auf den Halstüchern der Kirchentag-Teilnehmer in "Ufo". Frevert hinterfragt zwischen den Zeilen, ganz frech, aber doch so sympathisch, ob das mit dem Glauben überhaupt so sinnvoll sei. Der Hamburger glaubt wohl eher nicht an das Himmlische, an einen Gott, wer sie oder er auch immer sein mag. Er glaubt an das Irdische, an das Hier und Jetzt, das Leben, die Zwischenmenschlichkeit, das, was nach dem Aufstehen passiert, das, was es am Tage und in der Nacht zu entdecken gibt. Aus alledem nimmt der Sänger seine Inspiration, um fortwährend Songs zu schreiben und weiterhin wie ein Verrückter zu touren. Nein, Glaube braucht keine Landebahn, Glaube braucht nur einen guten Typen mit seiner Gitarre.
Highlights
- Das mit dem Glücklichsein ist relativ
- Schwör
- Ufo
Tracklist
- Nadel im Heuhaufen
- Das mit dem Glücklichsein ist relativ
- Schwör
- Ufo
- Morgen ist egal
- Speisewagen
- Alles muss raus
- Muscheln
- Die Abbiegung
- Loch in der Atmosphäre
Gesamtspielzeit: 35:27 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Desa Postings: 19 Registriert seit 14.06.2013 |
2017-09-13 15:20:50 Uhr
Na, Niels. Nach drei Jahren könnte doch so langsam ein Nachfolger angekündigt werden... :-) |
Michel |
2015-01-20 23:30:15 Uhr
Also ich finde das Album bisher sein bestes Solo Album. Durchgehend tolles Niveau, und textlich? wow, aber er versprüht auf diesem Album wieder das, was ich so an ihm liebe. Euphorie und Traurigkeit in den Liedern. Toll |
Desa Postings: 19 Registriert seit 14.06.2013 |
2014-12-12 13:18:47 Uhr
Konzert gestern im Lido in Berlin war toll. 20 Songs hat er gespielt, von den älteren Stücken auch Doppelgänger und Seltsam öffne mich. Daumen hoch, Niels! |
AndreasM Plattentests.de-Mitarbeiter Postings: 754 Registriert seit 15.05.2013 |
2014-08-27 09:44:50 Uhr
Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich es wirklich besser als "Zettel" finde, wo mir dieses doch mit der Zeit auch echt ans Herz gewachsen ist. "Paradies" hat aber definitiv auch das Zeug dazu. Textlich natürlich wie immer ganz vorne mit dabei. Ich sehe die Highlights ähnlich wie Pascal in der Rezension, würde aber unbedingt noch "Speisewagen" ergänzen. |
Desa Postings: 19 Registriert seit 14.06.2013 |
2014-08-26 22:06:14 Uhr
Gefällt mir insgesamt jetzt schon besser als "Zettel", abwechslungsreicher instrumentiert, auch wieder Mut zu etwas mehr E-Gitarre wie in "Muscheln". Freu mich auf das Konzert im Dezember. |
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