Sébastien Tellier - L'aventura

Record Makers / Rough Trade
VÖ: 11.07.2014
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Bettelwarm
Viele Menschen gäben Sébastien Tellier auf offener Straße, wenn sie ihm dort begegneten, sicherlich etwas Kleingeld und eine Flasche Shampoo dazu, natürlich möglichst unauffällig. Vielleicht schlügen sie auch einen verschämten Bogen um ihn, wer weiß das schon. Der zottelige Mann, der wohnlich etwas unentschlossen wirkt und seine lichtscheuen Augen gern hinter riesigen Brillen versteckt, ist aber gar kein am Leben Gescheiterter, wie man vielleicht glauben mag. Stattdessen veröffentlicht der schrullige Franzose in verlässlicher Regelmäßigkeit Alben zwischen weltgewandter Pop-Muzak, schwülstigem Ambient und umgekippten Soundtracks. Und das schon über zehn Jahre lang. "L'aventura" als neueste Pauschalreise hat nun Brasilien als diesjähriges Ziel auserkoren. Jenes beliebte Touristen-Idyll also, das sowohl wegen seiner sozialpolitischen Probleme als auch durch den sportlichen Misserfolg bei der kürzlich beendeten Fußball-WM bedingt immer noch verzweifelt um seine öffentliche Fassung ringt.
Natürlich war das bei Tellier alles etwas anders geplant. Leicht und sonnig sollte es werden, das neuerliche Konzeptalbum, voller geheimnisvoller Akkorde und seltsamer Melodien, von denen die brasilianische Musik bekanntermaßen überquillt. Den elektronischen Part und die wesentlichen Aufnahmen zusammen mit seinen Musikern ließ er zunächst in Paris sowie im etwas außerhalb gelegenen Studio von Jean-Michel Jarre erledigen. Die Authentifizierung seiner Songs fand dann vor Ort im bevölkerungsreichsten Land Südamerikas statt. An seiner Seite: Arthur Verocai, ein selbst in Brasilien geheimnisumtwitterter Komponist, der schon in den frühen 1970er Jahren einen abenteuerlichen Spagat zwischen ernster und unterhaltender Musik wagte. Verocai wiederum zeichnet sich für sämtliche Streicher auf "L'aventura" verantwortlich und knüpfte obendrein einige Kontakte zu ortsansässigen Talenten wie dem Percussionisten Robertinho Silva, der ebenfalls auf dem gesamten Album zu hören ist.
Das Ergebnis kann sich ohne jeden Zweifel hören lassen. Tellier kreuzt seine halluzinatorischen Chansons mit südländischem Easy Listening, klassische Fragmente verschränken sich mit nuschelndem Oszillatoren-Gefiepe zu einer bizarren Einheit, die kicherndes Vergnügen bereitet und auch nicht vor progressiven Parts, geschweige denn vor Fahrstuhlmusik Halt macht. Nur, dass alles ganz selbstverständlich und ohne irgendwelchen Zwist miteinander auskommt. So wie in "Aller vers le soleil" geschehen, das als flüchtige Reminiszenz an Mylène Farmer beginnt, in einen futuristisch-perkussiven Schlager der frühen France Gall übergeht und als verspielte Zuckerhutablage einen komfortablen Hort der Entspannung bietet. Oder "L'amour carnaval", einer sanften Gitarren-Miniatur mit niedlichem Synthesizer-Einsatz, die zwischen Pop und angedeuteten Krautrock-Experimenten pendelt. Wie die Stücke im Einzelnen auch heißen, sie sind zugleich durchflutet von Ehrfurchtsbekenntnissen an das große Vorbild des Franzosen: Der von zeitgenössischen Künstlern wie Robbie Williams oder MC Solaar gerne zitierte Filmkomponist François de Roubaix – bis zu seinem Unfalltod 1975 – für etliche bewusstseinserweiternde Soundtracks verantwortlich, die Tellier wiederum bis heute als Blaupausen für sein Tun dienen.
Tellier betrachtet seine Werke demnach als sehnsuchtserfülltes Kopfkino, als Zufluchtsort, in dem er wie jeder andere Zuhörer auch wieder Kind sein darf, neugierig, verspielt und beflügelt von einer schier unerschöpflichen Energie. Über die Jahre hat er sich bereits hinlänglich an Themenkreisen wie Politik, Glauben oder der menschlichen Sexualität abgearbeitet, immer mit dem für ihn typisch liebevollen Augenzwinkern. "L'aventura" ist nun sein bislang funkelndstes Album geworden, auf dem er ungewohnte Verbindungen zwischen kontinentaleuropäischem Wankelmut und der südamerikanischen Leichtigkeit des Seins vollzieht. Gegensätze, die man in der heutigen Realität genau umgekehrt erleben kann, was jedoch sicherlich nur eine Momentaufnahme darstellt. Jedenfalls ist diese Platte kein simples Almosen, sondern ein echtes, reichhaltiges Geschenk voller Wärme und Güte geworden. Seien wir dankbar dafür.
Highlights
- Aller vers le soleil
- L'amour carnaval
- L'enfant vert
Tracklist
- Love
- Sous les rayons du soleil
- Ma Calypso
- L'adulte
- Ricky l'adolescent
- Aller vers le soleil
- Comment revoir oursinet?
- L'amour carnaval
- Ambiance Rio
- L'enfant vert
Gesamtspielzeit: 53:27 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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captain kid |
2014-07-25 08:49:58 Uhr
Das ist Mucke wie ich sie mag. Total knorke. |
Tina |
2014-07-25 08:18:04 Uhr
Dufte Hits im flauschigen Klangkostüm. 3/10 |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28503 Registriert seit 08.01.2012 |
2014-07-25 01:58:20 Uhr
Frisch rezensiert! Meinungen? |
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Referenzen
François De Roubaix; Serge Gainsbourg; Françoise Hardy; Air; Arthur Verocai; Sylvie Vartan; France Gall; Dalida; Sérgio Mendes; Sigur Rós; Karl Hyde; Brian Eno; Ulrich Schnauss; Engineers; W-H-I-T-E; Burt Bacharach; James Last; Peter Thomas; Bert Kaempfert; Martin Böttcher; Eroc; Yello; Jean-Michel Jarre; Moby; Jimi Tenor; Röyksopp; Phoenix; Daft Punk; Alpinestars; Mylène Farmer; Les Rita Mitsouko; Kate Ryan; Stereo Total; Charles De Goal; Hervé Vilard; Gilbert Bécaud; Jacques Brel; Alexandra; Julio Iglesias; Mireille Mathieu; Johnny Hallyday; Señor Coconut; Tangerine Dream; Barry Manilow; Nat King Cole; Marvin Gay; Christopher Cross; Manhattan Transfer; Michael Giacchino; The Beatles; The Beach Boys; Frank Zappa; Weird 'Al' Yankovic; Dieter Meier; Pink Floyd; Kraftwerk; The Good, The Bad & The Queen; Madonna
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