All Diese Gewalt - Kein Punkt wird mehr fixiert

Treibender Teppich
VÖ: 19.04.2014
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10

Nicht mehr dasselbe
"Die Haut wirft Blasen / Die Menge schreit nach mehr / Kein Mensch auf den Straßen / Keinerlei Verkehr", krächzt Max Rieger alias All Diese Gewalt im Opener seines ersten Langspielers "Kein Punkt wird mehr fixiert". "Endloses Band" mäandert knapp fünf Minuten durch die tiefsten Täler: Zunächst ein Trapsen, ein Sturm zieht auf, Industrial-Claps mischen sich mit einem wabernden Bass ins Geschehen, die Synthies spielen eine Melodie, ziehen die Stimmung weiter ins Düstere. Rieger beklagt die Montonie des Seins: "Der Körper funktioniert automatisch." Der Stuttgarter echauffiert sich schallend, während die Instrumentierung den Vorhang weiter zuzieht und dem Toten die offenen Augen zustreift. Es ist verstörend und brilliant zugleich, wie Rieger den deftigen Noise- / Postpunk, den er schon mit Die Nerven pflegt und welcher auf "Fun" so saustark aufkochte, mit diesen Electronica-, Ambient-, und Drone-Elementen unterfüttert.
"Tag ohne Regen" folgt dem Einstieg auf dem Fuße, nimmt sich noch eine Minute länger Zeit, um die Apokalypse einzuleiten. Mehrere Gitarrenebenen ergänzen eine geisterhafte Stimmung, wimmern fast im Shoegaze, der Beat kommt organisch mit, die Wellen wogen vom linken aufs rechte Ohr und wieder hinüber, eine schräge Paso-Doble-Trompete übernimmt krachend die Kontrolle – break – "Everybody wants to be loved", skandiert Rieger, lässt sich von einem besoffenen Kinderchor wiederholen und von der Dreampop-Gitarre begleiten. "Good night wild child" kommt hingegen ohne Parole aus und pendelt sich irgendwo zwischen "La le lu" und John Frusciante nach einem frischen Schuss ein.
"Das hier ist einfach" hat gar Pop-Allüren, wenn sich die Rhythmusgitarre zum Einstieg einen vergnüglichen Cranberries-Unterton erlaubt. Doch auch die Klangwelt dieses Stücks zeigt sich überaus vielschichtig: So endet der Track zur Hälfte scheinbar in der völligen Stille, bis eine Gitarre aus der Ferne und ein Synthie-Geblubber aus dem Äther aufkeimt und der Titel martialisch in sich zerfällt. Mit "Illusionen" bringt Rieger zum Abschluss einen weiteren Überlängen-Kracher. Wieder ist es ein Elektro-Rock-Bastard, welcher sich zunächst einer gelangweilten Wild-West-Gitarre unterwirft. Die Kleine Trommel wirbelt an und auf einmal werden in The-Prodigy-Manier Wände eingerissen. "Woher willst Du wissen, dass alles künstlich ist / Dass alles und jeder nur Illusionen sind / Draußen im Garten hören die Nachbarn zu / Und ich rede lauter als zuvor / Um es zu übertönen, das Fiepen in meinem Ohr", keift Rieger und leitet die Platte mit diesen desillusionierenden Worten aus.
Für eine knappe halbe Stunde bringt All Diese Gewalt die Welt aus den Fugen, schafft es zu fesseln, reißt jede Aufmerksamkeit an sich, bindet in ominösen Strukturen den Hörer an den Schiffsmast, während "Kein Punkt wird mehr fixiert" in Seenot gerät und sich durch einen buchstäblichen Höllentrip manövriert. Die Nerven gelten derzeit als wichtigster Vertreter einer neuen deutschsprachig-intellektuellen Musikelite. Dass deren Ableger daher ähnlich Umfassendes auf die Beine stellen können, ist daher wenig verwunderlich, aber die Entwicklung im Gesamten über die Maßen erfreulich. "Das hier ist einfach nicht mehr das, was es noch nie gewesen ist", erkennt Rieger in "Das hier ist einfach": Es geht wieder aufwärts mit der deutschsprachigen Musik, dabei aber ganz anders als gedacht.
Highlights
- Endloses Band
- Illusionen
Tracklist
- Endloses Band
- Tag ohne Regen
- Good night wild child
- Das hier ist einfach
- Versteck
- Illusionen
Gesamtspielzeit: 27:55 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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The MACHINA of God User und Moderator Postings: 34624 Registriert seit 07.06.2013 |
2022-02-02 21:19:48 Uhr
Für mich eigentlich doch auf einem Niveau mit dem Nachfolger. Der Opener ist vielleicht sogar ihr/sein bester Song überhaupt. |
Affengitarre User und News-Scout Postings: 11385 Registriert seit 23.07.2014 |
2020-09-04 19:34:09 Uhr
Ja, die ist auch richtig richtig gut. Der Nachfolger liegt mir noch mehr, aber Welten liegen nicht dazwischen. |
Autotomate Postings: 6174 Registriert seit 25.10.2014 |
2020-09-04 15:49:03 Uhr
Oh, da hätte ich längst mal reinhören können, gefällt mir auf Anhieb mindestens so gut, wie die "Welt in Klammern"! |
nörtz User und News-Scout Postings: 15799 Registriert seit 13.06.2013 |
2020-01-03 17:48:21 Uhr
"Das hier ist einfach" ist mein Favorit. |
The MACHINA of God User und Moderator Postings: 34624 Registriert seit 07.06.2013 |
2020-01-03 17:45:26 Uhr
Finde ja, die ist nicht weit hinter der foridablen "Welt in Klammern". Besonders der Opener ist klasse. Werd sie aber (auch wegen der Länge) nciht mit in meine Top 100 nehmen. |
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Referenzen
Die Nerven; Boxhamsters; Love A; Messer; The Prodigy; Chemical Brothers; The Crystal Method; Justice; Boys Noize; Björk; Kraftwerk; Die Selektion; Animal Collective; Joy Division; The Fall; Sonic Youth; Talking Heads; Fugazi; Neu!; David Bowie; Lou Reed; John Frusciante; Sufjan Stevens; The Mars Volta; Adolar; Matula; Frau Potz; Turbostaat; The Hirsch Effekt; Kafkas; Herpes; Tocotronic; Die Goldenen Zitronen; Foyer Des Arts; Palais Schaumburg; Schrottgrenze; Muff Potter; Captain Planet; Ton Steine Scherben; Ja, Panik; Kreisky; Von Spar; 1000 Robota; Sport; Pendikel
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