Die Höchste Eisenbahn - Schau in den Lauf, Hase
Tapete / Indigo
VÖ: 08.11.2013
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Ein feiner Zug
Die höchste Eisenbahn fährt zwischen Peking und Lhasa in Tibet. 5072 Meter über dem Meeresspiegel. Von Francesco Wilking zu Moritz Krämer ist es nicht so weit, allenfalls zwei, drei Stationen mit der Singer-Songwriter-Linie. Sie fährt Erfahrungshorizonten entgegen, führt durch Kissenschlachtfelder und Kassensturzbäche, durch die Siebziger und Achtziger, in idyllischen Serpentinen auch durch die Gegenwart, durch lyrische Viadukte und über Brücken zwischen Lücken. Das alles mit einem Jahr Verspätung. Denn die Band, die aus den beiden erwähnten Herren, sowie den versierten Musikanten Max Schröder (Der Hund Marie, Tomte) und Felix Weigt (Kid Kopphausen, Spaceman Spiff) besteht, hat sich mit ihrem Debüt "Schau in den Lauf, Hase" so viel Zeit gelassen, dass es dann wirklich höchste Eisenbahn wurde. Ihre EP "Unzufrieden", mit Gastgesang von Gisbert zu Knyphausen und Judith Holofernes, war schließlich bereits 2012 erschienen – als Vorbote, der dann doch keiner war.
Denn von dem paisleygemusterten Singer-Songwriter-Folk-Pop der EP ist bei den 13 neuen Stücken gar nicht mehr so viel zu hören. Man ahnt es bereits, als in den ersten Sekunden eine weibliche Stimme mit Zeitansagentonfall und französischem Akzent "'allo, das ist Die 'ochste Eisenbahn" verkündet und der Zug mal eben in Richtung Synthiepop entglei...tet. Es ist natürlich keineswegs so, dass etwas gegen Tanzbarkeit spräche, man hätte bloß etwas anderes erwartet. Im Bahnjargon wäre wohl von einem außerfahrplanmäßigen Aufenthalt die Rede. Wenn Wilking über die leeren Versprechungen der Vollpfosten aus der Werbung sinniert, klingt es viel mehr nach seiner Band Tele als nach seinem Solo-Erstling "Die Zukunft liegt im Schlaf". Ohnehin: Das illustre Instrumentarium wirft sich jedem Refrain an den Hals und an dieser Stelle muss jetzt wirklich der Beipackzettel zitiert werden, der "Saxophon und DX7 (Toto, Chris de Burgh, Talking Heads), dazwischen massenhaft klingelnde (Chorus-)Gitarren, Disco-Beats und Casio-Flöten" verspricht. Wird alles gehalten.
Und noch mehr: Innerhalb der ersten sieben Lieder gibt es "Sex bis Dir die Luft ausgeht", "Sex im Bienenstock" und "Sex in der Umkleide von H&M". Das Verkaufsargument bleibt aber trotzdem die lyrische Potenz der beiden Texter. Vor allem Wilking hat so viele güldene Sätze parat, dass man ein eigenes Abteil für Zitate ankoppeln müsste. Die Musik fährt mindestens zweigleisig und erweist sich dabei als ausgesprochen vielseitig: "Body & Soul" präsentiert strahlenden Pop in fidelen Regenbogenfarben, der sich aus dem Folk nicht nur die Mundharmonika mitgenommen hat, während "Aliens" mit einem Hall-&-Oates-Rhythmus loslegt und der hervorragende Titeltrack "Schau in den Lauf, Hase" direkt aus Paul Simons "Graceland"-Phase stammen könnte. "Isi" hingegen erzählt davon, dass eben doch nicht alles so easy ist, mit der Liebe und so, und steht mit Blues, Schummerlicht, Fender Rhodes und Wilkings hinreißend vorgetragener Alltags-Poesie den schönsten Bahnstrecken Deutschlands in nichts nach.
"Raus aufs Land", mit Krämer in der Hauptrolle, erzählt die Geschichte einer Beziehung nach Überschreitung des Mindesthaltbarkeitsdatums, wenn alles, was man noch in der Hand hat, die Notbremse ist. Und der Zug kommt trotzdem noch nicht zum Stehen. Die Musik erinnert hier ausnahmsweise doch an erhabene Singer-Songwriterkunst, die Melancholie nicht mit Selbstmitleid verwechselt. "Was machst Du dann" eröffnet mit Beats und Computerspiel-Sound, wechselt einmal mehr in den Pop-Express-Modus und lässt einen aufgeweckten Kinderchor die Titelzeile tirilieren. "Alle gehen" und "Blaue Augen" sind hingegen als Ruhe-Abteil der Platte zu verstehen und zum Schluss, sozusagen kurz vor Ankunft im Zielbahnhof, holt Wilking noch eine funkelnde Schunkelballade aus dem Koffer. Nicht jeder kann Zeilen wie "Wenn wir uns so lange nicht sehen / Bleiben die Uhren am Hauptbahnhof stehen" singen, ohne dass es auch nur ansatzweise nach Schlager klingt. Zum großen Finale gibt es sogar noch Bonus-Zeilen auf Italienisch. Und dann denkt man an einen altbekannten Ohrwurm, den man auch im engsten Gleis immer wieder anstimmen kann: Senk ju vor träwelling. Und das ist in diesem Fall wirklich ernst gemeint.
Highlights
- Isi
- Schau in den Lauf, Hase
- Raus aufs Land
- Die Uhren am Hauptbahnhof
Tracklist
- Egal wohin
- Body & Soul
- Aliens
- Isi
- Schau in den Lauf, Hase
- Raus aufs Land
- Pullover
- Was machst Du dann
- Alle gehen
- Blaue Augen
- Allen gefallen
- Mira
- Die Uhren am Hauptbahnhof
Gesamtspielzeit: 56:17 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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jo Postings: 6616 Registriert seit 13.06.2013 |
2023-10-18 20:44:02 Uhr
In zwei Tagen Artur & Vanessa von Krämer und Wilking (und "anderen" ;) ). Ich freue mich sehr! Leider keine Rezension bisher... |
Grizzly Adams Postings: 5631 Registriert seit 22.08.2019 |
2022-10-25 19:05:28 Uhr
Hol den Thread gerne wieder ein bisschen (und für kurze Zeit) nach vorn. War für mich 2013 das beste deutschsprachige Album. Immer noch ganz weit oben, wenn ich die letzten 10 Jahre betrachte. Kann man ja nicht immer erklären, warum ein Album sich so sehr in die Seele gräbt. Aber hier reinzuhören, heute bestimmt nach 2 Jahren zuletzt, ist wie einen alten guten Freund wiederzusehen, mit dem man den ganzen Tag verbringen ne die Zeit vergessen kann. Höchstwertung für mich 10/10 |
AndreasM Plattentests.de-Mitarbeiter Postings: 749 Registriert seit 15.05.2013 |
2016-03-11 13:41:28 Uhr
Im Herbst wird es nun endlich eine neue Eisenbahn-Platte geben, wie hier verraten wird:http://www.musikexpress.de/von-tele-zum-tatort-warum-songwriter-wilking-auf-schlagerpop-umschulte-500573/ |
captain kidd Postings: 3749 Registriert seit 13.06.2013 |
2014-10-02 08:30:08 Uhr
macht noch immer spaß. doch, gutes album. lakonisch, traurig, witzig. und musikalisch mit geilen 70er-anleihen und pseudo-soul. |
@Armin |
2014-02-20 08:13:42 Uhr
francescos stimme kann man wenigsten gut verstehen, im gegensatz zu dem genuschel von herrn krämer. und live legt der moritz immer seinen kopf seitlich auf seine schulter und hat einen blick drauf, das er gleich irgendjemanden in der ersten reihe verspeisen möchte! |
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Referenzen
Francesco Wilking; Tele; Moritz Krämer; Der Hund Marie; Max Schröder & das Love; Wolfgang Müller; Gisbert zu Knyphausen; Bergen; Wir Sind Helden; Spaceman Spiff; Kid Kopphausen; Olli Schulz; Staring Girl; Erdmöbel; ClickClickDecker; Jona Steinbach; Philipp Poisel; Niels Frevert; Timid Tiger; Max Herre; Paul Simon; Hall & Oates; Talking Heads; Toto; Johnny Hates Jazz; Chris de Burgh; 10CC; Rio Reiser; Jan Plewka; Purple Schulz; Münchener Freiheit; Stefan Gwildis; Stefan Waggershausen; Spandau Ballet; Prefab Sprout; Crowded House; Fleetwood Mac; Steely Dan; Supertramp; Steve Miller Band; Aztec Camera; The Lightning Seeds; Guillemots; Fyfe Dangerfield; Ben Folds
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