Carcass - Surgical steel

Nuclear Blast / Warner
VÖ: 13.09.2013
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

28 years later
Bill Steer hat enough. Seit fünf Versuchen fummelt der 16-Jährige jetzt auf dem Griffbrett seiner Gitarre rum, immer wieder rutscht ihm an der gleichen Stelle der Finger ab – bloody hell. Einmal wird der junge Bill es noch versuchen, einmal noch, dann soll, nein muss die Nummer sitzen. Wir schreiben 1985, das Jahr, in dem Liverpool seine Unschuld verlor. Bei Ausschreitungen vorm Europapokalspiel in Brüssel zwischen Liverpool und Turin wurden knapp 500 Menschen verletzt, 39 starben, eine Katastrophe. Im Liverpooler Stadtteil, in dem Bill Steer mit seinen Eltern lebt, ist es lauter geworden: Gemeinsam mit unter anderem Ken Owen (15) hat Steer 1985 die Band Disattack gegründet, keine ausgesprochen leise Band. Die Eltern tolerieren, dass ihr Keller seit Neuestem schalldichte Wände vertragen könnte – die Nachbarn müssen hin und wieder überzeugt werden, besagt die Legende. Jetzt zählt Bill Steer noch einmal runter, noch einmal gilt's. Und tatsächlich: diesmal klappts. Keine abrutschenden Finger, keine störenden Nachbarn, das Gitarrenlick sitzt.
28 Jahre lang wird es als Zeitdokument auf einer verrauschten Bandaufnahme existieren. Steer ist jetzt Mitte 40, Ken Owen hat zwei Hirnoperationen hinter sich, die Band Disattack ist in der Band Carcass aufgegangen. Und deren neue Platte "Surgical steel" ist so etwas wie das "Chinese democracy" für alle, die vor zwanzig Jahren mal den Rock Hard im Abo hatten: lange Zeit so undenkbar gewesen wie eine Registrierungsfunktion auf Plattentests.de – und mittlerweile kaum noch zu erwarten. Die Momentaufnahme in Bill Steers Keller wird bei allem noch eine relativ prominente Rolle einnehmen.
Sagen wir's vorab: Die Band Carcass ist mit "Surgical steel" heute so tragisch, wie sie gestern gewesen ist – immer am richtigen Ort, nie ganz zur richtigen Zeit. Pionierarbeit leisteten sie schon Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre, als sie ähnlich ihrer Geistesverwandten von Napalm Death den Wahnwitz des Grindcore nutzten, dieser Abart zwischen Anarchopunk und Extrem-Metal, um sich auszutoben. Und sich dabei die technischen Fähigkeiten erspielten, die sie zu "Heartwork" führte, der vielleicht ersten Death-Metal-Platte, die man auch Lebensabschnittspartnern vorspielen konnte, ohne postwendend auf dem Kompost zu landen. Eines der Stücke auf "Surgical steel" haben Carcass "Noncompliance to ASTM F 899-12 standard" genannt. In ihm brüllen Rhythmusgitarren, so laut wie die Prototyp-Blondinen aus sämtlichen Slasherfilmen auf eine einzige Tonspur gelegt und zusammenaddiert. Und dennoch: Trotz unaussprechlichem Songnamen und fiesem Gerät auf dem Cover der Platte singen immer wieder Leadgitarren Melodien dazwischen, spielen Carcass Kopfnicker-Grooves, deuten einen waschechten Chorus an, der dann und wann tatsächlich zu Potte kommt. Es ist noch heute nicht schwer, ihn innerhalb diesem virtuos aufgespieltem Synapsen-Pogo zwischen Harmonie und Wucht, zwischen Raserei und Brüllerei auszumachen: den Ursprungssound, der Bands wie die heute lange an die Leine gelegten In Flames zur Weltkarriere verholfen hat. Carcass hingegen lösten sich damals standesgemäß auf, noch bevor ihre letzte Platte überhaupt erschien. "Swansong" hieß die, ebenso standesgemäß, und schien lange Zeit das Vermächtnis von Carcass. Gut, dass dem nicht so ist. Wie gut, spielen sie einem in der Wahnsinns-Nummer "Cadaver pouch conveyor system" vor, das kein Stück weniger geschmackvoll knallt, als sein Titel vermuten lässt.
Das Bemerkenswerte: Obwohl "Surgical steel" sich anhört, als sei es zwischen den Carcass-Alben "Heartwork" (1993) und "Swansong" (1996) entstanden, sind nur noch drei der alten Helden auf diesem Album zu hören. Bassist und Sänger Jeff Walker kreischt heiser wie seit "Heartwork" nicht mehr: wie die Banshee, die aus der Gruft gestiegen ist. Gitarrist Bill Steer spielt Mädchen für fast alles, er schrieb den Großteil der Songs, so ist überliefert, und straft die reaktionäre Metalpresse Lügen, die ihm einst unterstellte, keinen Bock mehr auf Metal zu haben – denkste! Ex-Schlagzeuger Ken Owen erlitt 1999 eine Hirnblutung, lag danach monatelang im Koma – und Carcass lassen ihn hier ein paar Backing-Vocals einschreien, weitaus mehr als eine großartige Geste: eine Herzenssache. Macht drei, eigentlich nur zweieinhalb der alten Hasen. Aufgefüllt haben Carcass ihren Kader mit Ben Ash (Pig Iron) und Dan Wielding (u.a. Trigger The Bloodshed), der auch schon Tourschlagzeuger für Heaven Shall Burn war.
Geradezu gespenstisch wird diese Platte manchmal, wenn dieser Wielding fertig angezählt hat, sich noch mal die Haare aus dem Gesicht wischt, seine Sticks greift, die beiden Füße vor den Double-Bass-Drums in Stellung bringt – und loslegt: Die Art, wie er in der Nummer "Unfit for human consumption" Walkers Gekeife unterballert, die Fills platziert und Grooves mit genau getimeten Beats versorgt – es ist kaum zu glauben, dass Owen hier tatsächlich nur ein paar Backing-Vocals übernommen haben soll. Das alles macht Wielding ohne Click-Tracks, ohne Tricks, ohne Gedöns, selbst wenn die Produktion der Platte alten Grindcore-Fetischisten sicherlich eine Spur zu knallig geraten sein wird. Wäre noch die Geschichte mit dem Lick zu klären: Es befindet sich auf "Surgical steel", und zwar dort, wo es alle als erstes hören: nach 28 Jahren neu aufgenommen, ganz ohne eventuelle Verspieler von damals, gleich zu Beginn der Platte. Der Kreis schließt sich, Steer hat zumindest vorerst mal wieder genug.
Highlights
- Cadaver pouch conveyor system
- Noncompliance to ASTM F 899-12 standard
- Mount of execution
Tracklist
- 1985
- Thrasher's abattoir
- Cadaver pouch conveyor system
- A congealed clot of blood
- The master butcher's apron
- Noncompliance to ASTM F 899-12 standard
- The granulating dark satanic mills
- Unfit for human consumption
- 316 L grade surgical steel
- Captive bolt pistol
- Mount of execution
Gesamtspielzeit: 47:06 min.
Referenzen
Napalm Death; Autopsy; At The Gates; General Surgery; Exhumed; Arch Enemy; In Flames; Soilwork; Gorefest; Pungent Stench; Haemorrhage; Edge Of Sanity; Aborted; Arsis; Morbid Angel; Amon Amarth; Deicide; Extreme Noise Terror; Nasum; Entombed; Cannibal Corpse; Hypocrisy; Impaled; Malevolent Creation; Vader; Grave; Obituary; Monstrosity; Entombed; Bloodbath; Dismember; Suffocation; Dying Fetus; Brutal Truth; Monstrosity; Gorerotted; Malevolent Creation; Skinless; Kreator
Surftipps
- https://www.facebook.com/OfficialCarcass
- https://myspace.com/carcass
- http://www.earache.com/bands/carcass/carcass.html
- http://www.nuclearblast.de/de/label/music/band/about/3025043 .carcass.html
- http://en.wikipedia.org/wiki/Carcass_(band)
- http://de.wikipedia.org/wiki/Carcass
- http://www.laut.de/Carcass
- http://www.lastfm.de/music/Carcass
- http://www.discogs.com/artist/Carcass
- http://www.ghostcultmag.com/chinese-whispers-an-interview-wi th-carcass/
- http://www.voicesfromthedarkside.de/Interviews/CARCASS--8431 .html
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