Tom Waits - Alice

Anti / Epitaph / Connected
VÖ: 06.05.2002
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

The man who wasn't there
Große Namen, große Geschichten und hohe Ansprüche - eine Kombination, die selten gut geht. Es sei denn, man hat es mit Tom Waits zu tun. Der rauhe Geschichtenerzähler, der noch aus jedem Trauerkloß eine herzergreifende Melodie herausgequetscht hat, war denn auch genau der richtige, um sich neben der Umsetzung von Büchners "Woyzeck" auch an Lewis Carolls "Alice im Wunderland" heranzuwerfen. Doch die Dame ziert und windet sich. Wäre ja auch zu schade, wenn Waits einmal nur rosarote Liebeslieder zu bieten hätte.
Statt dessen reißt er sich beim Streicheln Splitter in den Finger, statt Luft und Liebe gibt es auf "Alice" Lust und Leberschaden. Schwermut schwemmt salzige Tränen in Balladen wie "Poor Edward", "Lost in the harbour" oder "I'm still here" heraus. Dem Sturm und Drang von "Kommienezuspadt" grollt es in der Kehle, während dazu Schwertfischposaunen jaulen und wimmern. Der "Table Top Joe" schwankt auf der Bühne herum, klemmt die Whiskeyflasche zwischen die faulen Zähne und singt den Blues. Anderswo ziehen lebende Unfälle über die "Reeperbahn": "Now little Hans was always strange / Wearing women's underthings."
Waits bearbeitet derlei Erzählungen mit Schmirgelpapier und einem Hauch von Jazz. Leise klagt die Baßklarinette, noch leiser wimmern die Violinen. Und selbst Waits zerfurchtes Grummeln steckt voller Leidenschaft. Der chaotischen Ironie der Vorlage setzt Waits zerfahrene Harmonien und taumelnde Sehnsucht entgegen. Stets melancholisch, aber immer auch aufmüpfig stolpert er von einer Absurdität zur nächsten. Und trotz allerlei Volk, das ihm dabei über den Weg läuft, bleibt er mit seinen mal lieblichen, mal versponnenen Melodien doch alleine. "Hell is such a lonely place."
Hin und hergerissen zwischen sanften Schunklern wie "No one knows I'm gone" und holprigen Kirmesstampfern wie "Everything you can think of is true" wandert der Barde mit weit aufgerissenen Augen durch eine Welt voller Alpträume und Abgründe. "We're all mad here" - wie wahr, wie wahr. Kein freundlicher Hase, der den Weg weist. Keine weisen Raupen mit guten Tips. Überall lauern falsche Fährten und verschwindende Böden. Nur die Liebe weist den Weg, doch die Herzdame führt die Klinge an die Kehle. Und am Ende bleibt von Waits wie von Carolls Katze nur ein schiefes Grinsen übrig.
Highlights
- Alice
- Flower's grave
- Table Top Joe
- We're all mad here
Tracklist
- Alice
- Everything you can think
- Flower's grave
- No one knows I'm gone
- Kommienezuspadt
- Poor Edward
- Table Top Joe
- Lost in the harbour
- We're all mad here
- Watch her disappear
- Reeperbahn
- I'm still here
- Fish & bird
- Barcarolle
- Fawn
Gesamtspielzeit: 48:23 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Das Orakel |
2010-03-26 22:37:10 Uhr
Dodggson´s Liebe ist abartig, monströs, zerstörerisch (nicht zuletzt gegen sich selber) - und dabei hoffnugslos. Die Liebe hier ist eine einseitige und ungesunde Sache. Der eine hält ALICE für das beste Album von Tom Waits, der andere für Kunstkacke; dem einen ist ALICE das bedrückendste (schönste), dem anderen das schlimmste Album geworden; einer versteht es als Liebesgeschichte, der andere als Persiflage einer Liebesgeschichte. Leidenschaftlich ist das Urteil immer. |
Das Orakel |
2010-03-26 22:22:29 Uhr
Waits´ALICE ist weniger eine Verdichtung der Bücher als eine Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Dodgson (Lewis Carroll) und der wahren Alice. Das Album kam auf den Markt als die Debatte um Kindesmissbrauch, Internetpornographie und Pädophilie am Hitzigsten geführt wurde.Waits nimmt das Thema der Pädophilie in seinen Texten nicht unmittelbar auf, er formuliert keine Anklage. Diese Obsession bildet vielmehr den Hintergrund für eine tragische, unerfüllbare Liebe.Fish And Bird (live) |
Holle |
2010-03-26 22:05:04 Uhr
Aber mal im Ernst: Das Ganze hat doch mit "Alice im Wunderland" von Lewis Carrol so gut wie gar nichts gemein. Das ist doch nur eine Grundlage für Waits` wuchernde, explodierende musikalische Fantasie, oder? So wie bei "Blood Money"/"Woyzek" eben auch. Oder hab ich da was falsch verstanden? |
Holle |
2010-03-26 21:55:26 Uhr
"I´m Still Here"Der Song, kurz wie er ist, bringt mich immer wieder zum Heulen. Das Album als Ganzes muss ich mir erst noch erschließen. |
youtube |
2010-03-26 21:49:46 Uhr
Tom Waits - Fawn |
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Referenzen
Nick Cave & The Bad Seeds; The Piano Has Been Drinking; Kaizers Orchestra; Sandy Dillon; The Dresden Dolls; Johnny Dowd; Jack Logan; John Trudell; Giant Sand; Das Weeth Experience; Frank Zappa; Captain Beefheart; Randy Newman; Leonard Cohen; T-Bone Burnett; Jim White; M. Ward; Clem Snide; Mark Lanegan; Tindersticks; The Black Heart Procession; Sixteen Horsepower; The Cramps; Hoagy Carmichael; Howlin' Wolf; Firewater; Blues Explosion; Foetus
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