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My Bloody Valentine - M B V

My Bloody Valentine- M B V

Pickpocket
VÖ: 02.02.2013

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 9/10

Zwischen Glück und Seligkeit

Man muss es ganz langsam sagen, um es wirklich fassen, greifen, verstehen zu können: 22 Jahre. Über zwei Jahrzehnte. 1991. Was für popkulturelle Erlebnisse fanden damals statt? Freddie Mercury macht seine AIDS-Erkrankung öffentlich und stirbt am nächsten Tag. "Nevermind" wird veröffentlicht. Die Leute rennen ins Kino, um "Das Schweigen der Lämmer" zu sehen, während die Rezensentin dieses Textes im zarten Alter von vier Jahren das erste Mal überhaupt in eines geht, um "Die Schöne und das Biest" anzuschauen. Schauspieler jenseits der 30 verkörpern Teenager in "Beverly Hills, 90210" und machen damit ordentlich Kohle. Das Internet wird auf die Welt losgelassen. Und die irische Band My Bloody Valentine veröffentlicht ihr zweites Album "Loveless", das, wie wir alle wissen, für die kommenden 22 Jahre ihr letztes gewesen sein soll. Bis jetzt.

Obwohl die Kritiker begeistert sind von "Loveless", verkauft es sich eher mager, und die Ansprüche der Band wachsen der Plattenfirma über den Kopf. Die Marketingstrategie von Kevin Shields, die im Grunde darin besteht, auf jegliches Marketing zu verzichten, wird als untragbar abgestempelt und kurz nach Veröffentlichung werden My Bloody Valentine auf die Straße gesetzt. Was folgt, sind viele Geschichten, Gerüchte und Neuankündigungen von Shields selbst, der eigenen Angaben zufolge bereits Mitte der 1990er Jahre am dritten Album der Band zu arbeiten begann, bis diese sich 1997 schließlich ganz auflöste. Zwei Alben sollten also die einzige Hinterlassenschaft dieser Band zwischen Genie und Wahnsinn, Verzweiflung und Hoffnung, gar Leben und Tod sein? Zumindest sah es lange so aus. Als Shields im November 2012 dann ankündigte, dass das neue Material so gut wie fertig sei, konnte man nur müde lächeln, und selbst Ende Januar 2013, als es hieß, dass das Album bald erscheinen würde, glaubte das keiner.

Am 2. Februar tat sich dann aber etwas, womit niemand mehr gerechnet hatte: Über ihre Facebook-Seite gaben My Bloody Valentine die Veröffentlichung ihres dritten Werkes "M B V" noch in derselben Nacht bekannt. Ganz ohne externes Label oder Vertrieb, denn über den Kopf wachsen wollen My Bloody Valentine zukünftig nur noch ihren Hörern - weil die es ihnen immerhin danken: Auch, wenn es für viele dann doch noch bis zum nächsten Morgen dauern sollte, bis sie das Album hatten, da aufgrund des Ansturms die Server innerhalb weniger Minuten zusammenbrachen, lauschte die Musikwelt am Sonntagmorgen den Klängen des ersten Albums von My Bloody Valentine in 22 Jahren. Davon kann man später noch seinen Kindern erzählen - und wenigstens hoffen, dass sie zuhören.

Nach zwei abgeschlossenen Kapiteln mit "Isn't anything" und "Loveless" ist es nun also da, das dritte, das laut Shields am spannendsten sein soll. Nach den ersten paar Durchgängen von "M B V" ist dann recht schnell klar: Ein zweites "Loveless" ist es nicht - leider, aber auch zum Glück. Wiederholen können sich viele. Etwas Grandioses noch besser machen nur wenige. Aber dieses Grandiose auf andere Art ebenfalls grandios hinzukriegen, ist wohl nur ein paar Menschen vorbehalten. Überhaupt: Der Vergleich zwischen "Loveless" und "M B V" hinkt gewaltig, auch wenn man es dennoch mal versuchen möchte. Wirklich aus der Zeit geraten waren My Bloody Valentine eigentlich nie, doch während sie Anfang der 1990er Jahre diesen speziellen Sound mit Namen Shoegaze, bei dem man gleichzeitig vor Freude und vor Trauer heulen möchte, nicht nur mitkreierten, sondern im selben Atemzug radikalisierten, haben sie seitdem viele geprägt, die immerhin ähnliche Arbeit leisten. Deshalb gab es dereinst neben etwa The Jesus And Mary Chain, Swervedriver, Slowdive oder Lush nicht nur die Einen - und doch kann es heute nur diese Einen geben.

Mit entsprechender Spannung startet man "M B V" und wird vom Opener "She found now" gnädig in Empfang genommen. Ohne Gepolter geht es also los, dafür mit wabernden, verzerrten Gitarren und Shields' zerbrechlich wirkendem Gesang, welcher derart behutsam mit seinem Hörer umgeht, dass dieser sich endgültig sicher sein kann: My Bloody Valentine sind tatsächlich zurück. Das erste Drittel von "M B V" erfüllt diese Aufgabe vorzüglich. Es schafft Atmosphäre und baut die Brücke in die Vergangenheit zu "Loveless", ohne altbacken zu klingen. Glückseligkeit und Optimismus erfahren einen Anstieg im folgenden "Only tomorrow", das im Gegensatz zum Opener etwas von seiner Introversion ablegt, das Distortionpedal einmal mehr voller Freude nutzt und eine Melodie schafft, die auch ganz ohne den Einsatz halluzinogener Stoffe den Eintritt in eine neue Welt ermöglicht. "Who sees you" hingegen könnte glatt als Fortsetzung von "I only said" durchgehen, und schafft nicht zuletzt dank des psychedelischen Riffs und des Nachhalls eine Melodie, die man nur schwer wieder vergessen kann - oder möchte.

Der Mittelteil von "M B V" schafft schließlich den Schritt von "Loveless" hin zum Neuen, zumindest größtenteils. Das minimalistische "Is this and yes" funktioniert wie eine Art Interlude, bei der der Einsatz eines Keyboards und des fast schon erhabenen Gesangs von Bilinda Butcher eine sphärische Traumkulisse erschaffen, aus der man in "If I am" abrupt und mit voller Genuss entrissen wird. Schließlich soll das hier kein Wellness-Trip werden. Der sicherlich radiofreundlichste Song "New you" beendet den zweiten Teil schließlich mit einem eingängigen Beat und ordentlichen 1990er-Jahre-Reminiszenzen, während Butchers geradliniger Gesang einmal mehr eine gleichermaßen be- und aufrührende Wirkung erzeugt.

Zum Schluss schaffen My Bloody Valentine den Dreisatz von "M B V" über "Loveless" bis hin zu "Isn't anything" im 4/4-Takt von "In another way", das sich klammheimlich als bester Song des Jahres entpuppen könnte. Der polternd-aufbrausende Rhythmus paart sich mit durchbrochenen Gitarren und einer beinahe orchestralen Hintergrundmelodie, und schafft dabei einen Zustand irgendwo zwischen vollkommener Erschöpfung und Entspannung. Mit der ist es dann schnell vorbei im folgenden Instrumental "Nothing is", bei dem das hektische Schlagzeugspiel nicht nur gefühlt lauter wird, sondern dem Hörer innerhalb von über drei Minuten empfindlich nah auf die Pelle rückt. Auch die Beklommenheit gehört eben dazu, und deswegen endet "M B V" natürlich erwartungsgemäß auf einer hohen Note mit dem außerirdischen "Wonder 2", das mittendrin nicht nur mehrfach das Tempo wechselt, sondern zum Schluss ebenfalls an Lautstärke gewinnt. In den letzten Zügen, wenn die Geschwindigkeit wieder abnimmt, ist dann aber klar, dass man hier nicht erst kurz vorm Abflug steht, sondern längst angekommen ist. Vielen Dank für diese Reise.

(Jennifer Depner)

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Highlights

  • She found now
  • Who sees you
  • If I am
  • In another way

Tracklist

  1. She found now
  2. Only tomorrow
  3. Who sees you
  4. Is this and yes
  5. If I am
  6. New you
  7. In another way
  8. Nothing is
  9. Wonder 2

Gesamtspielzeit: 46:37 min.

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