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Radiohead - Amnesiac

Radiohead- Amnesiac

Parlophone / EMI
VÖ: 05.06.2001

Unsere Bewertung: 10/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Nothing to fear

Radiohead gegen den Rest der Welt. Die einstweilige Verweigerungshaltung der Schöpfer des eisigen Monoliths "Kid A" wurde mit aufgeregtem Blätterrauschen quittiert. Kommerziellen Selbstmord würden sie begehen. Das Album sei auf arrogante Art unhörbar. Zu verkopft, zu konstruiert, zu schwierig seien die komplexen Strukturen, mit denen Yorke einen erigierten Mittelfinger an jegliche Erwartungshaltung schickte. Und doch strafte man alle Kritiker Lügen: Das Album, an dem die Band beinahe zerbrochen war, geriet zum überwältigenden künstlerischen und kommerziellen Triumph. Als sich Gerüchte breitmachten, daß Radiohead noch ein zweites Album in der Schublade hätten, wurden selbst die aufgeregten Spekulationen, die sich um den mysteriösen Vorgänger rankten, übertroffen. Ein Gitarrenalbum sollte es werden, vermutete man. Radiohead würden zu ihren Wurzeln zurückkehren und elektronische Frickelei elektronische Frickelei sein lassen. Nach dem vermeintlich unzugänglichen "Kid A" wurde ein freundliches "Kid B" erwartet oder gar erhofft. Den Eingeweihten blieb indes nichts, als zu grinsen.

Unnachahmlich entpuppt sich auch das zweite Kind, das die 373 Tage währenden Aufnahmesessions gebaren, als enigmatisches Meisterwerk. Die fünf Oxforder erfreuen sich einmal mehr an paranoiden Experimenten, auch wenn "Amnesiac" spürbar anschmiegsamer in die Wirklichkeit fließt. Der Opener "Packt like sardines in a crushd tin box" ist Pop, selbstverständlich in Radioheads Interpretation. Wie auf Kochtöpfen geschlagen zuckt ein Rhythmus aus den Boxen, trifft dabei auf analoge Pluckereien und verspulte Gitarren, bis er schließlich von Yorkes samtweich erklingender Stimme empfangen wird.

Auch die verschachtelt erscheinenden, düsteren Klavierakkorde von "Pyramid song" kriechen wie ein wohliger Schauer unter die Haut. Lichtblitze zucken an einem blutroten Himmel. Yorkes krude Phantasien werden auf Wolken davongetragen, während er mit "There was nothing to fear and nothing to doubt" die immer noch verschüchterten Zuhörer beruhigt. Langsam tasten sie sich an die großen Geheimnisse heran, die auf "Amnesiac" versteckt sind. Überraschungen und Ehrfurcht nehmen kein Ende. "You and whose army" beginnt als Zeitreise. Fast vermag man das zärtliche Knistern der Schellack-Platten hören. "Come on, come on" säuselt Yorke und entschwindet im Hall, als die Karma-Polizei anklopft.

Kaum haben sich die Ordnungshüter wieder verzogen, werden die Verstärker wieder aufgedreht. "I might be wrong" postrockt mit hypnotischem Geschepper die Nickelbrille von der Nase. Repetitives Geklapper und linksdrehende Piepsereien wechseln sich beim Klebstoffschnüffeln ab. Und wie 1977 lautet die Parole: "There is no future left at all." Optimismus ist fehl am Platze. Statt dessen mäandern dunkle Nebel umher. Selbst im fast konventionell wirkenden "Knives out", bei dem die Gitarren perlen wie einst bei den Smiths, starrt Yorke mit der Fratze eines Franz Kafka auf freundliche Kannibalen. "If you'd been a dog / They would have drowned you at birth".

War "Kid A" die Ausgeburt eines wahrhaft eiskalten Albums, strahlt der Nachfolger eine seltsame digitale Wärme aus. Der Teufel steckt erneut im Detail und tarnt sich als der verzerrt grinsende Bär, der mittlerweile zur Ikone der Band auserkoren wurde. Unwirkliche Empfindungen greifen um sich, schütteln lockere Grooves aus dem Ärmel, und der nette Zyniker von nebenan wischt die Tränen aus dem Knopfloch. Versöhnliche Streicher, verhallte Gitarren oder statisches Elektronikrauschen schwirren vorbei und zwinkern dabei fast freundlich. Radiohead beweisen mit "Amnesiac", daß Träume keineswegs im Angstschweiß enden müssen. Man verliert sich nicht in Strukturen, sondern wächst mit der Atmosphäre. Postpop, Postrock, Postpunk und Postjazz geben sich ein Stelldichein und bleiben doch bloß unscharfe Etiketten einer atemberaubenden Schönheit. Wer glaubt, "Kid A" verstanden zu haben, darf sich neuen Rätseln zuwenden.

(Oliver Ding)

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Highlights

  • Packt like sardines in a crushd tin box
  • Pyramid song
  • I might be wrong
  • Life in a glass house

Tracklist

  1. Packt like sardines in a crushd tin box
  2. Pyramid song
  3. Pulk/Pull revolving doors
  4. You and whose army?
  5. I might be wrong
  6. Knives out
  7. Morning bell / Amnesiac
  8. Dollars and cents
  9. Hunting bears
  10. Like spinning plates
  11. Life in a glass house

Gesamtspielzeit: 43:50 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

kingbritt

Postings: 5161

Registriert seit 31.08.2016

2022-03-02 08:11:08 Uhr

"Knives out" Interpretation von Brad Mehldau.

https://www.youtube.com/watch?v=ICOdB2d6J_M

saihttam

Postings: 2360

Registriert seit 15.06.2013

2022-03-01 21:58:19 Uhr
Jo, danke!
Ich glaube ich höre mir demnächst nochmal Kid A und Amnesiac direkt hintereinander an, um den direkten Vergleich zu haben.

MopedTobias (Marvin)

Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion

Postings: 19949

Registriert seit 10.09.2013

2022-03-01 21:58:00 Uhr
Ja, danke an alle und hoffentlich bis nächste Woche! :)

dreckskerl

Postings: 9798

Registriert seit 09.12.2014

2022-03-01 21:57:54 Uhr
Ja, auch von mir danke und bis nächste nächste Woche: dann wohl das abwechslungsreichste Album der Band...ich denke, dass kann man unabhängig von der Wertung sagen.

K.A.

Postings: 173

Registriert seit 11.05.2014

2022-03-01 21:56:52 Uhr
Auch von mir ein großes Dankeschön. Hat wieder sehr viel Spaß gemacht.
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