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Jahrespoll 2024 – Die Favoriten der RedaktionDie Weltlage ist düster und dazu passt das Comeback der kultigen Gruftrock-Ikonen von The Cure natürlich vorzüglich: "Songs of a lost world" vereinte in den heiligen Redaktionshallen sämtliche Musikstil-Fraktionen und konnte mit rekordverdächtiger Punktzahl den Titel "Album des Jahres" einfahren. Doch auch über den bittersüßen Weltschmerz hinaus hatte 2024 musikalisch einiges zu bieten: Fontaines D.C., seit geraumer Zeit Dauergast auf den vorderen Rängen in unseren jährlichen Redaktionspolls, erneuerten ihren Sound um großspurigen Britpop und holen sich den gar nicht mal so undankbaren zweiten Platz. Das Stockerl komplettiert Grandseigneur Nick Cave, der gemeinsam mit seinen Bad Seeds abermals eine tiptop Platte veröffentlicht hat, die gar nicht mal so düster klingt. Ansonsten darf man sich mit Independent-Künstler*innen wie MJ Lenderman, Chelsea Wolfe und Nilüfer Yanya freuen, die allesamt begeistern konnten, so unterschiedlich ihre Herangehensweise an Musik auch ist. Erstaunlich indes: The Smile, Nebenprojekt von den beiden Radioköppen Thom Yorke und Jonny Greenwood, veröffentlichten zwei Platten und keine davon chartet in unseren Top Ten. Was sicher nicht an der Qualität der beiden LPs lag. Dumm nur: Sie nahmen sich gewissermaßen gegenseitig die Stimmen weg. Weniger ist mehr? Fragt mal bei The National! Bei der Wahl zum "Song des Jahres" ein ähnliches Bild: An der Spitze thront mit "Endsong" der epochale Schlusspunkt des neuen The-Cure-Albums. Mit "Starburster" schnappatmen sich Fontaines D.C. zum zweiten Mal dieses Jahr auf den zweiten Platz, womit die Iren quasi zum Bayer Leverkusen des Jahrespolls werden. Oder haben wir da irgendetwas verpasst? Rang drei geht an Die Nerven, aber im positiven Sinne jetzt: "Das Glas zerbricht und ich gleich mit" war natürlich ein Brecher, den man in den vergangenen zwölf Monaten öfters in die Welt krakeelen wollte. Und sonst? Feierten wir natürlich auch den Brat-Girl-Summer, wenngleich die Platte um Haaresbreite unsere Top 20 verpasst hat. Immerhin die Single "Von Dutch" konnte den Sprung in die oberen Ränge schaffen, wo sich Ja, Panik als "einzige Droga" und Kendrick Lamar als ultimativer Sieger im Rap-Battle gegen Drake präsentieren konnten. |
Album des Jahres |
Song des Jahres |
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1. The Cure Songs of a lost world |
1. The Cure Endsong |
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Dass ich auf Running Gags stehe, könnte einigen bekannt sein. Schade ist es normalerweise, wenn einer endet – beim lange erwarteten ersten The-Cure-Album nach 16 Jahren dafür umso schöner. Die Online-Schnipselei im Vorfeld hätte ich nicht gebraucht, denn die Songs entfachen nur in voller Länge ihre Pracht. Acht Monolithen, die einen teils sofort umblasen, teils erst nach und nach. Aber wir haben ja Zeit. Armin Linder |
Am Ende des fulminanten Comebacks treibt Robert Smith es auf die Spitze. Lässt seine Band fast sechseinhalb Minuten Gänsehautatmosphäre auf Gänsehautatmosphäre schichten, bevor er mit seiner ewig jugendlichen Stimme den blutroten Mond ansingt, im Dunkel staunend, dass er immer noch auf dieser Welt weilt. Keine Hoffnungen mehr, keine Träume, alles weg. Verloren. Herzzerreißend. Und doch so erhebend. Thomas Bästlein |
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2. Fontaines D.C. Romance |
2. Fontaines D.C. Starburster |
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Vielleicht liegt die große Klasse des vierten Studioalbums aus dem Hause Fontaines D.C. im enormen Abwechslungsreichtum, der etwaige Beliebigkeit clever umschifft. Möglicherweise ist es auch die hörbare Spielfreude, mit der die Iren ihre herausragenden Qualitäten zum Klingen bringen. Dass "Romance" uneingeschränkt begeistert, mag aber auch schlicht daran liegen, dass jeder einzelne Song überzeugt. Torben Rosenbohm |
Wie klingt die Vertonung einer Panikattacke in einer Londoner U-Bahn-Station? Bei Fontaines D.C. überraschend eingängig! Auf ihrem vierten Album "Romance" setzten die Iren verstärkt auf elektronische Klänge, was sich bereits in der ersten Single "Starburster" ankündigte. Der für einen Grammy nominierte Ohrwurm begeistert mit seinen treibenden Drums, Synthies und Grian Chattens Sprechgesang. Dennis Rieger |
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3. Nick Cave & The Bad Seeds Wild god |
3. Die Nerven Das Glas zerbricht und ich gleich mit |
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Dramatik und biblische Anleihen gehen bei Nick Cave immer, insofern passt "Wild God" mit seinen vielen Gospel-Anleihen perfekt in sein Werk. Der Himmel ist wieder heller, der Blick geht nach all der Trauerverarbeitung nach oben. "We've all had too much sorrow, now is the time for joy." Wenn es wieder so scheint, dass die Welt den Bach runtergeht, konzentriere dich auf die schönen Dinge. Wie dieses Album. Felix Heinecker |
"Warum hab ich Angst, aber Du nicht?" Keine andere Zeile bilanziert so pointiert, wie sich für einen vernünftigen Menschen die Weltlage 2024 anfühlt. Der Faschismus drängt immer unverhohlener in die Tür und ein großer Teil der Bevölkerung zuckt mit den Schultern oder breitet gar die Arme aus. Dagegen stemmt sich dieser mächtige Post-Punk-Song, der trotz aller Verzweiflung nicht den Kopf in den Sand steckt. Marvin Tyczkowski |
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4. Die Nerven Wir waren hier |
4. Fontaines D.C. Favourite |
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"Wir waren hier" ist das nächste Brett in der Diskografie der Lärm-Spezialisten. Revolte war vorgestern, dem teils wütenden Fatalismus des Trios entspringt auf Album Nummer sechs ein Zustand, der die Apokalypse akzeptiert. Die ist in vollem Gange, für die Abrechnung ist trotzdem noch Zeit. Erneut liefern Die Nerven Hits, die keine sein wollen. Sie waren hier. Die vielleicht wichtigste Band Deutschlands. Eric Meyer |
Die Panik von "Starburster" weicht einem anderen Gefühl. Glockenklare Gitarren und Grian Chattens gebrochene Liebeserklärung beschwören Jugend- und Vergangenheitsbilder herauf, die einen bittersüßen Widerspruch in sich tragen. "Favourite" ist einer dieser seltenen Songs, die in wenigen Minuten Dekaden erzählen. Federleicht ins Ohr, bedeutungsschwer dort harrend: "You've been my favourite for a long time." Viktor Fritzenkötter |
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5. MJ Lenderman Manning fireworks |
5. MJ Lenderman She’s leaving you |
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Zugegeben: Der Hype um "Rat saw God", dem 2023er-Album von Lendermans Stammband Wednesday, ging an mir so ziemlich vorbei. Ganz anders nun "Manning fireworks": Die vierte Solo-Platte des Sängers und Multiinstrumentalisten Mark Jacob Lenderman biegt mit schiefem Indie-Rock, schlurfigem Slacker-Sound und Alt-Country, der in seinen besten Momenten an The Weakerthans erinnert, um die Ecke. Was ein Volltreffer!
Kevin Holtmann |
Cooler Slacker oder lahmer Countryrock-Barde? Den Nerds war MJ Lenderman längst bekannt, sein viertes Album "Mannig fireworks" kam endlich auch zu uns aufs Radar und heimste die 9/10 ein! Zurecht natürlich. "She's leaving you" klingt nicht komplett repräsentativ für die Platte, will aber partout nicht aus dem Ohr. Wer konnte das noch gleich ähnlich ergreifend? Natürlich! The Wrens. Lang ist's her ... Eric Meyer |
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6. Chelsea Wolfe She reaches out to she reaches out to she |
6. Kettcar München |
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Die Fürstin der Finsternis hält Hof und ihre Untertanen verneigen sich ein weiteres Mal in Ehrfurcht. Wie es sich für eine Dame aus hohem Hause ziemt, genügen ihr sparsame Gesten, um die Menge in Trance zu versetzen. Schwarz ist die Nacht, schwarz sind ihre Kleider. Mit eisiger Stimme singt sie ihre Klagelieder, während die Welt aus den Fugen gerät. Monarchie statt Alltag? Wenn, dann bitte so. Christopher Sennfelder |
Muss man auch erst mal so bringen: Die vielleicht hamburgischste Band überhaupt singt über die bayerische Landeshauptstadt. Doch regionale Unterschiede werden rasch bedeutungslos bei diesem schmerzlichen Rocksong gegen Alltagsrassismus und den kleinen Nazi in uns allen: "München-Harlaching, München, alte Lady / Mein Herz ist ein totgeschlagenes Robbenbaby." Und die Babyotter? Denkt nicht mal dran, Freunde. Thomas Pilgrim |
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7. Kendrick Lamar GNX |
7. Ja, Panik Lost |
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Ohne jede Vorankündigung schmeißt Kendrick Lamar sein neues Album in einen tristen Herbst und beweist, dass er auch ohne konzeptionelle Schwere brillieren kann. "GNX" konzentriert sich auf retrofuturistischen Westcoast-Rap, der bei aller musikalischen Detailverliebtheit einfach Spaß macht. Drake in Grund und Boden dissen und mit das beste HipHop-Album des Jahres raushauen – kann man noch mehr erreichen? Marvin Tyczkowski |
Lost and found: Tastete sich "Die Gruppe" Ja, Panik auf dem gleichnamigen Album nach langer Pause noch vorsichtig durch den sphärischen Raum, so markiert "Lost" als Opener von "Don't play with the rich kids" eine triumphale Rückkehr zum gitarrenscheppernden Indie-Rock der frühen Jahre, voller hinreißender Hooks und süffiger Slogans. "Ja, Panik topfit! Top Sound, Top Optik!" Dem ist wenig hinzuzufügen. Michael Albl |
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8. Nilüfer Yanya My method actor |
8. Charli XCX Von Dutch |
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Das dritte Album von Nilüfer Yanya erschien genau zur richtigen Zeit. Nach einem persönlich düsteren Sommer hat es meine Herbsttage in ein strahlendes Gold getaucht. Insbesondere "Call it love" traf mich tief: Es ist nicht nur einer meiner Lieblingssongs des Jahres, sondern unterstreicht auch die emotionale Tiefe und Schönheit des Gesamtwerks. Das ist wirklich mehr als Musik – es ist vertonte Liebe. Jennifer Depner |
Auf einem Album voll von feistem Elektropop war "Von Dutch" der feisteste Track von allen. "It's okay to admit that you're jealous of me" – das ist nur der Einstieg, den Charli XCX in diesen Dancefloor-Banger wählt. Der Refrain hämmert das Mantra "I'm your number one" ins Hirn, was aber gar nicht nötig gewesen wäre, denn man weiß es ja eh schon. Besser ließ es sich kaum ausrasten in diesem Jahr. Felix Heinecker |
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9. Ja, Panik Don’t play with the rich kids |
9. Idles Dancer |
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Die Gruppe um Mastermind Andreas Spechtl hat einen bunten Strauß aus smarten Ideen und frischen Slogans gebunden, die Gitarren gründlich entstaubt und klingt so rockig und energiegeladen wie lange nicht mehr. Haben wir nicht unbedingt erwartet. Nehmen wir aber gern. Ja, Panik im Jahr 2024? Topfit! Und Trendsetter. "Don‘t play with the rich kids" dachte sich eines trüben Novembertages auch Olaf Scholz. Markus Huber |
Bristol meets New York hieß es anlässlich der ersten Single aus "Tangk", dem fünften Album von Idles. Für das dynamisch-pulsierende "Dancer" haben sich die Briten hochkarätige Unterstützung aus Übersee ins Boot geholt und kurzerhand LCD Soundsystem für den Gemeinschaftssong rekrutiert. Dem Titel entsprechend geht es ab auf die Tanzfläche, wo man sich neben wunden Füßen auch mal blaue Flecken holt. Torben Rosenbohm |
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10. Idles Tangk | 10. Kendrick Lamar Not like us |
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"No god, no king, I said love is the thing." Weißte Bescheid: Idles sind schwer verknallt. Wir auch in ihren herzlich ruppigen Post-Punk, der sich längst nicht so viel Pop leistet, wie der Songtitel "Hall & Oates" suggeriert. Erst recht nicht, wenn das "Gift horse" mit den Briten durchgeht. Zwar gab es im Genre auch für sie 2024 kein Vorbeikommen an Fontaines D.C. – ins Herz schließen wir "Tangk" dennoch. Thomas Pilgrim |
Öffentlich ausgetragene Beefs samt Disstracks sind meistens eine ziemlich würdelose und vor allem musikalisch recht anspruchslose Angelegenheit. Nicht so in den Händen eines der besten Rappers aller Zeiten. Kendrick Lamars "Not like us" geht als einer der legendärsten Disstracks in die Geschichte ein, prägt die Kultur und regt den Diskurs an. Drake kann einem fast leidtun, aber nur fast. Arne Lehrke |
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11. Adrianne Lenker – Bright future 12. Billie Eilish – Hit me hard and soft 13. Beth Gibbons – Lives outgrown 15. The Last Dinner Party – Prelude to ecstasy 16. Opeth – The last will and testament 17. Touché Amoré – Spiral in a straight line |
11. Fontaines D.C. – In the modern world 12. The Last Dinner Party – Nothing matters 13. Beth Gibbons – Floating on a moment 14. The Cure – Alone 15. Adrianne Lenker – Sadness as a gift 16. K.I.Z. – Frieden 17. Antilopen Gang – Oktober in Europa |
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Auswertung: Kevin Holtmann
Koordination und Einleitungstext: Kevin Holtmann
Texte: Die Redaktion von Plattentests.de