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Jahrespoll 2022 – Die Favoriten der RedaktionKaum ein Album brachte die grundsätzliche Stimmung des Jahres 2022 besser auf den Punkt als "Die Nerven" von, nun ja, der Band gleichen Namens. Krieg, Terror, rechter Hass, Klimakatastrophen, globale Pandemie: Die allgemeine Lage ist präapokalyptisch, und "Die Nerven" war der Soundtrack zur Bewältigung. Klarer Fall: unser Album des Jahres! Auch auf den Plätzen dahinter bleibt die Stimmung oft düster: Fjørt kløppelten sich mit "Nichts" in den Post-Hardcore-Olymp, Birds In Row verzückten auf dem kunstvollen "Gris Klein" ebenfalls mit harten Klängen, und die schwedischen Viagra Boys wünschten die Menschheit auf "Cave world" direkt zurück in die Höhle. Nur gut, dass mit Rosalías "Motomami" auch ein paar exotische Klänge die Stimmung aufhellen konnten, während unsere Indie-Darlings Nilüfer Yanya und Beach House auf gewohnt hohem Niveau abgeliefert haben und bewiesen: Es war nicht alles schlimm in den abgelaufenen zwölf Monaten. Als Tocotronic den Titelsong ihres aktuellen Albums veröffentlichten, konnte keiner ahnen, wie aktuell der Käthe-Kollwitz-Slogan werden würde. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine änderte sich das rasch, und Tocotronics "Nie wieder Krieg" wurde allein schon des Titels wegen zum Statement-Song des Jahres. Doch auch musikalisch stand Dirk von Lowtzow, Rick McPhail, Arne Zank und Jan Müller das neue Outfit gut, und darum küren wir die Nummer hiermit zum Song des Jahres. Verdient! Ansonsten gab es einige starke Comebacks: Suede lieferten mit "She still leads me on" eine wunderbare Britpop-Hymne, während Muff Potter mit dem starken "Nottbeck city limits" uns weniger feierlich die billigen Discount-Fleischlappen um die Ohren prügelten. Eine stabile Vorstellung gaben auch Fontaines D.C., die sich allmählich zum absoluten Dauerbrenner in unseren Redaktionscharts mausern. Was "In ár gCroíthe go deo" aber bedeutet? Erfahrt Ihr weiter unten. |
Album des Jahres |
Song des Jahres |
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1. Die Nerven Die Nerven |
1. Tocotronic Nie wieder Krieg |
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Wie passend sie ist, diese letzte Zeile auf "Die Nerven": "Der Anfang vom Ende", schreit es dem Hörer da entgegen. Ein spektakulärer Abschluss nach 37 Minuten voller Wut, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung. Das fünfte Album der Stuttgarter spricht nicht vom Glück, und macht in seiner Ehrlichkeit doch glücklich. Wenn schon alles den Bach runtergeht, dann wenigstens mit einem ordentlichen Soundtrack. Jennifer Depner |
Pazifistisches Stoßgebet oder die Hoffnung auf ein Ende der persönlichen Dramen "in dir, in mir, in uns"? Der Opener des gleichnamigen Albums vereint gekonnt Slogan und Symbolik. Dirk von Lowtzows raunender Gesang zu Piano und Glöckchenklang beschreibt vereinsamte Menschen; seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ist jedoch die politische Deutung unausweichlich: Nie wieder Krieg! Michael Albl |
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2. Nilüfer Yanya Painless |
2. Suede She still leads me on |
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Kryptisch genug, um jede Menge Interpretationsfläche zu bieten, geduldig genug, um nicht aufdringlich zu sein und vor allem mit jeder Menge subtiler Gewalt und Wucht: Immer, wenn ich denke, dass ich mich bald an "Painless" sattgehört haben könnte, haut mich Nilüfer Yanya mit einer neuen Nuance um. Zu ihrem zweiten Album kann man sich legen, wenn man Trost braucht oder gemeinsam leise schreien. Arne Lehrke |
Kreischendes Feedback, druckvolle Drums, Richard Oakes' treibendes Glam-Punk-Gitarrenriff und Brett Andersons direkt ins Herz gehende Stimme: Der fantastische Opener von Suedes bestem Album seit "Coming up" in den Hochzeiten des Brit-Pop ist ein überschwänglich hymnisches Requiem auf Andersons lang verstorbene Mutter. Dem Song gelingt es, Tränenkanal wie Tanzbein gleichzeitig zu aktivieren. Groß! Michael Albl |
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3. The Smile A light for attracting attention |
3. Muff Potter Nottbeck city limits |
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Wo Radiohead aufhören und der Rest beginnt, sitzen Jonny und Thom und liefern sich einen Wettstreit der Ideen. Sie kennen alle Tricks des Gegenübers, nichts kann sie überraschen. Und dann passiert es doch und beide lächeln. Und weil sich das gut anfühlt, machen sie weiter. Am Ende kommt dann ein Album heraus und alle interpretieren ganz viel hinein, so wie immer. Und aus dem Lächeln wird ein Grinsen. Christopher Sennfelder |
Mit ungeheurer Sprachgewalt konfrontiert Thorsten Nagelschmidt die gnadenlose Realität des Tönnies-Skandals mit dem Privileg weltentrückten Band-Daseins, Tür an Tür in der westfälischen Provinz. Zeigt, dass Muff Potter während der Pause nichts an Angriffslustigkeit verloren haben. Zeigt auch, dass sie sich lyrisch und musikalisch extrem weiterentwickeln konnten. Mach schau! Aber schaut nicht weg. Ralf Hoff |
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4. Fjørt Nichts |
4. Arcade Fire The lightning I, II |
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Es liegt eine ungeheure Wucht in der musikalischen Kunst dieses Trios. Eine Wucht, die über die Jahre immer weiter verfeinert und nun zu einem neuen Höhepunkt in der nach wie vor jungen Bandhistorie zusammengefügt wurde. Mit diebischer Freude lässt man sich hier anschreien und verfolgt die Herrschaften beim furiosen Treiben, das sowohl bei der Instrumentierung als auch textlich vieles bereithält. Torben Rosenbohm |
Die epochale Doppelsingle erschien, als man sich noch nicht fragen musste, ob Künstler und Werk zu trennen sind oder man Arcade Fire ganz den Rücken kehrt. Das Zweifach-Wow wurde verstärkt von einem bildstarken Clip, der die immer verbreitetere Lyricvideo-Langeweile wegpustete. Die beste Stelle wartet präzise im Übergang, mit einem der wirkungsvollsten "1, 2, 3, 4"s der an "1, 2, 3, 4"s nicht armen Musikhistorie. Armin Linder |
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5. Fontaines D.C. Skinty fia |
5. Harry Styles As it was |
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"Skinty fia" ist ein Werk der Ruhe und Findung. Fontaines D.C. entfachten mit ihrer neu entdeckten Melancholie bereits auf "A hero’s death" große Momente, erst hier ist das musikalische Destillat des Fünfers von der Emerald Isle jedoch vollendet. Vom schwelgenden "Roman holiday" bis zum subtilen Hit "Jackie down the line" zeigt "Skinty fia" eine ausgeruhte Band auf dem bisherigen Zenit ihres Schaffens.
Hendrik Müller |
Lange musste man den Popsong des Jahres 2022 nicht suchen. Harry Styles lieferte ihn mit "As it was" auf dem Silbertablett. Eine leicht verhallte Stimme schwebt über treibenden Drums, Melancholie und Schönklang vereinen sich in trauter Zweisamkeit. Der Song verknüpft dabei meisterhaft 80s-Feeling und 2000er-Indie-Disco zu einem HIT in Großbuchstaben. "Good night" sagen wir zu Harry sicher noch lange nicht. Kevin Holtmann |
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6. Beach House Once twice melody |
6. Fontaines D.C. In ár gCroíthe go deo |
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Schon mal in einem Bottich kochender Marmelade gebadet? Ein Genuss, sofern der Bottich Beach House heißt und diese EP-Sammlung auf Doppelalbum drin ist. "Superstar" klopft den Dream-Pop-Hit 2022, "Hurts to love" schmerzt und betört, bei "Finale" ist das ganze Jahr Weihnachten. Doch alle Exegeten des allseits verehrten Duos bitte Ruhe bewahren: "Once twice melody" enthält ausnahmslos Lieblingssongs. Thomas Pilgrim |
Zarter, sakraler Chorgesang steht am Beginn. "Für immer in unseren Herzen" auf Irisch - Worte, die anno 2018 so nicht auf dem Grabstein einer Verstorbenen in England stehen durften. Zu politisch der Anblick. Wütend-majestätisch türmen sich die folgenden Minuten zum Unwetter. Ein Song für Album-, Konzert-, ach was, für Anfänge aller Art. Und von so kämpferischer Schönheit wie die Insel, von der Fontaines D.C. stammen. Viktor Fritzenkötter |
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7. Viagra Boys Cave world |
7. Moderat Undo redo |
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Gespräch unter Höhlen-Yetis: "Schau mal, ich habe Feuer gemacht." - "Und das hat so lange gedauert? Hör das nächste Mal lieber Viagra Boys dabei! Da brennt bei grob verzerrtem, dreckverkrustetem Post-Punk und angekotzten Pöbel-Vocals über den Zustand der Menschheit die Bude gleich von selbst. Ich glaube, wir sollten schnell aussterben, bevor's uns genauso geht." - "Stimmt. Aber großartiges Album!" Thomas Pilgrim |
Es waberte das Gerücht durch die Musikwelt, dass Moderat Geschichte sein könnten. Diese brillante Zusammenarbeit von Apparat und Modeselektor hatte drei faszinierende Studioalben hervorgebracht, bevor einiges auf Abschied hindeutete. Zum Glück hieß es dann: weit gefehlt! "More d4ta" lautet der Titel des vierten Streichs, darunter "Undo redo", das die Kunst der Kollaboration trefflich zusammenfasst. Torben Rosenbohm |
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8. Birds In Row Gris Klein |
8. Editors Heart attack |
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Zu den positiven Aspekten des Jahres gehört es, dass nun wieder unerwartete Festivalentdeckungen möglich sind. So geschehen bei Birds In Row, die auf einem solchen den undankbaren ersten Slot am Nachmittag belegten. Trotzdem legten die Franzosen eine Spielfreude an den Tag, überzogen ihr Set kolossal und präsentierten "Gris Klein", dessen Pracht auch noch Monate später zur Geltung kommt. Klaus Porst |
Tom Smith und Co. machen es uns nicht leicht. Mit "EBM" ziehen die Briten ihrem Stadion-Sound nun auch Techno-Beats mit der Bratpfanne über. Das kann man ablehnen, verpasst dann allerdings die eine oder andere Perle. "Heart attack" ist eine solche: pulsierender Beat, Editors-Pathos, Hammer-Refrain, Smiths Stimme. Hach! Manchmal braucht es eben den leichten Schlag auf den Hinterkopf. Mit der Bratpfanne. Eric Meyer |
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9. Tocotronic Nie wieder Krieg |
9. Betterov Dussmann |
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Nach dem autobiografischen Album folgt nun die Platte der plakativen Slogans: Tocotronic blicken auf gesellschaftliche Missstände, tauchen in den Schlund und wundern sich, warum man mit schnöden Dosenchampignons nun wirklich keine Tiefkühlpizza aufpeppen kann. Ein Album, das "Hoffnung" spendiert, den Hörer an die Hand nimmt und in die freie Welt entführt: eine Utopie als Rettungsanker in düsteren Zeiten! Kevin Holtmann |
"Dussmann" kam bereits im Juni 2021 raus und begegnete mir erstmals im Dezember letzten Jahres. Der Song wurde sofort zur passenden Begleitmusik für eine schwermütige und melancholische Zeit. Auch nach einem Jahr hat der Flug des Protagonisten vorbei an den Etagen des Berliner Kulturkaufhauses nichts an Magie eingebüßt und ist für mich das Highlight auf Betterovs diesjährigem Debütalbum "Olympia". Andreas Rodach |
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10. Rosalía Motomami |
10. Tocotronic Jugend ohne Gott gegen Faschismus |
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Das Pop-Album des Jahres spricht spanisch und ist so viel mehr als Pop: Flamenco, Salsa und Bolero treffen auf zerglitchten Futurismus und kaputte Beat-Schrottpressen, emotionale Balladen auf körperliche Banger, und im Zentrum hält eine Frau die Fäden zusammen, die singen kann wie kaum eine zweite auf der Welt. Ein Meilenstein für Zugänglichkeit und Ambition verbindende Musik, die keine Genres mehr kennt. Marvin Tyczkowski |
Inspiriert vom Romantitel "Jugend ohne Gott" (Ödön von Horváth, 1937) drehen Tocotronic den Scheinwerfer von der Gesellschaft nach der Machtübernahme der Nazis auf das Hier und Heute: den Turbokapitalismus und die Kluft zwischen Arm und Reich. Die soziale Frage ist längst zur bedeutendsten Stellschraube für gesellschaftlichen Frieden geworden. Schlechte Nachricht: Sie sitzt 2022 lockerer denn je. Eric Meyer |
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11. Arcade Fire – WE 13. Muff Potter – Bei aller Liebe 14. Death Cab For Cutie – Asphalt meadows 17. Porridge Radio – Waterslide, diving board, ladder to the sky |
11. Viagra Boys – Punk rock loser 12. Rosalía – Saoko 13. Alvvays – After the earthquake 14. Yeah Yeah Yeahs feat. Perfume Genius – Spitting off the edge of the world 15. Big Thief – Simulation swarm 16. Love A – Will und kann nicht mehr |
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Auswertung: Kevin Holtmann
Koordination und Einleitungstext: Kevin Holtmann
Texte: Die Redaktion von Plattentests.de