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Jahrespoll 2021 – Die Favoriten der Redaktion

Der Titel für das Album des Jahres bleibt dieses Jahr in Bayern: The Notwist lieferten mit "Vertigo days" nichts anderes als ein weiteres Meisterwerk, das letztlich viel mehr war als eine bloße Songsammlung: die einzelnen Tracks fließen ineinander, dass es ein wahres Hörereignis war. Ähnlich begeistern konnte uns "I don’t live here anymore" von The War On Drugs, auch wenn sich an deren Breitwand-Sound nur wenig geändert hat. Aber hey, wir sind auch nur Gewohnheitstiere und lieben unseren Heartland-Rock besonders opulent! Komplettiert wird das Treppchen von Torres, die mit "Thirstier" ihre bislang beste, weil dringlichste Platte veröffentlicht hat. Und sonst so? Nun, mit Low und Mogwai haben zwei verdiente Bands späte Karrierehighlights rausgehauen, während die noch am Beginn ihrer vielversprechenden Laufbahn stehende Arlo Parks mit "Collapsed in sunbeams" das beste Debüt 2021 veröffentlicht hat. Und Sufjan Stevens ließ sich für sein Kollabo-Album mit Songwriter-Kollege Angelo De Augustine von Hannibal Lecter, Mad Max und Co. inspirieren. Was es nicht alles gibt …

Ach ja, den Song des Jahres gibt es zum Beispiel noch. Und hierfür ließ sich Danger Dan, sonst in Amt und Würden bei der Antilopen Gang, von noch schlimmeren, weil real existierenden Gestalten "inspirieren". "Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt" war der Statement-Song gegen alle Schwurbler, Rechte und sonstige Verschwörungsfanatiker. Versöhnlicher, dafür wesentlich rätselhafter erscheint "Ich tauche auf", der Vorbote zum neuen Tocotronic-Album. Gemeinsam mit Soap & Skin wird hier auf beeindruckende Art ein neues Kapitel in der langen Bandgeschichte aufgeschlagen. Chvrches holten sich auch Unterstützung: Niemand geringeres als der sakrosankte Robert Smith veredelte den neuen Hit der Schotten. Und während Tocotronic uns von einem geheimnisvollen Tauchgang berichten, erklären uns Chvrches "How not to drown".

Album des Jahres

Song des Jahres

Cover 1. The Notwist
Vertigo days
Cover 1. Danger Dan
Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt

The Notwist öffnen das Band- und Soundkonzept mit Gastmusikern aus aller Welt und ineinander fließender Songs im Spannungsfeld von Indietronic, Folk, World Music und Neo-Jazz weiter als je zuvor. Ein klassisches Album-Album, für das sich die Shuffle-Option von selbst verbietet und das dank melancholischer Momente und genialischem Gefrickel zuverlässig Gänsehaut und euphorischen Schwindel garantiert.

Michael Albl

Danger Dan beansprucht das berüchtigte "Wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen" für die gute Seite der Macht und liest dabei so manchem Bösewicht die Leviten. Einen Tweet von Jan Böhmermann später geht der Titel komplett durch die Decke. Ein Lied bewegt eine Gesellschaft ... so in etwa muss das gewesen sein, als Bob Dylan "Blowin' in the wind" & Co. rausbrachte. Dieser Song des Jahres ist alternativlos.

Pascal Bremmer

Cover 2. The War On Drugs
I don’t live here anymore
Cover 2. Mogwai
Ritchie Sacramento

Auf ihrem dritten Glanzstück in Serie beziehen sich Adam Granduciel und Co. so offen wie nie auf Dylan oder Springsteen. Nicht, um sie zu imitieren, sondern um ein grundlegendes Versprechen des Rock zu erneuern: Wer Lieder nicht nur für sich singt, begegnet dem Zweifel hymnisch. "So take control of anything / That tries to pull us all apart", wird noch lange gelten, ob in engen Zimmern oder weiten Stadien.

Viktor Fritzenkötter

"Rise crystal spear!". Eine surreale Anekdote aus dem Leben des wunderbaren David Berman als textlicher Aufhänger. Der vielschichtige Gitarrenton, über dem sich eine majestätische Elegie auf verlorene Weggefährten aufbaut. Dazu der gewohnt augenzwinkernde Titel, aus einem Missverständnis geboren. "Ritchie Sacramento" entstand, als sich die kosmische Wucht Mogwais in vier funkelnde Minuten zusammenballte.

Viktor Fritzenkötter

Cover 3. Torres
Thirstier
Cover 3. Chvrches feat. Robert Smith
How not to drown

Mackenzie Scott ist mit sich im Reinen, noch dazu ziemlich verliebt und will die ganze Welt damit anstecken. "Thirstier" ist mehr von allem – mehr Elektro-Späße, mehr 90er-Rock, mehr grenzenlose Liebe, und das alles zusammen, so als koste es kaum Anstrengung. Ob nun Kracher wie "Hug from a dinosaur" oder schaurig-schöne Über-Balladen (siehe rechts): Soviel weltumarmende Glückseligkeit gehört gekürt.

Ralf Hoff

Ja, okay: Hier singt der altehrwürdige Robert Smith mit. Er ist allerdings nicht der Star von "How not to drown". Der Song wäre nämlich auch ohne ihn überlebensgroß, ein Meisterstück in Sachen Synthpop-Dramatik. "Watch as they pull me down", fleht Lauren Mayberry wiederholt und steckt doch tief drin in diesem Wall of Sound, der zu keiner Sekunde lockerlässt und das "not" im Songtitel Lügen straft.

Felix Heinecker

Cover 4. Mogwai
As the love continues
Cover 4. Torres
Thirstier

Eigentlich hatte man geglaubt, man würde Mogwai nach all den Jahren und Alben inzwischen auswendig kennen und würde einer Band bei der Pflege des eigenen Denkmals zuhören. Und dann kommen die Schotten mit "As the love continues" um die Ecke, einfach nur, um en passant die vor Qualität strotzende Diskografie um ein zweifelsfreies Highlight zu bereichern. Die Liebe geht weiter. Hoffentlich noch lange.

Martin Smeets

Dieser Song war zweifelsfrei eine der großen Überraschungen des abgelaufenen Musikjahres. Denkt man in den ersten Augenblicken dieser Nummer noch an eine P!nk-Ballade, so bricht schon bald der zarte Lärm über den Hörer herein und lässt staunend zurück: Indierock kann auch 2021 noch hymnisch, zupackend und wachrüttelnd sein: "Baby, keep me in your fantasies!" Worauf Du Dich verlassen kannst, Torres!

Kevin Holtmann

Cover 5. Low
Hey what
Cover 5. Sam Fender
Seventeen going under

"Maybe it's your violent past", orakelten Low 2007 auf "Drums & guns". Doch auch in der Gegenwart liegen musikalische Gewalt und Zartheit dicht beieinander – und zwar auf dieser Sammlung mutwillig zerschossener Torch-Songs und Gospel-Choräle, die sich ständig dröhnend selbst dekonstruiert und dann wieder zusammenklaubt. Schöner als hier hat 2021 niemand den alten Affen Indie-Rock vor die Wand gefahren.

Thomas Pilgrim

Da war nicht nur Vorfreude. Sondern auch Sorge vor enttäuschter Erwartung, bevor die erste Single zum Nachfolger meines "Albums des Jahres" 2019 erschien. Und dann: Staunen! Stimme, Komposition, Saxofon – ein Song wie ein 1000-Teile-Puzzle, das erst präzise zusammengefügt ein perfektes Bild ergibt. Sam Fender ist kein One-Album-Wonder, sondern einer der talentiertesten Singer-Songwriter unserer Zeit.

Armin Linder

Cover 6. Arlo Parks
Collapsed in sunbeams
Cover 6. Billie Eilish
Oxytocin

Ich habe dieses Album zum ersten Mal im genau richtigen Moment gehört, nämlich an einem eiskalten Sonntagmorgen bei strahlend blauem Himmel in der Mitte von Nirgendwo. Vom Spoken-Word-Vortrag des Titeltracks über "Black dog" und dessen herzzerreißender Melancholie bis hin zum sensiblen R'n'B von "Bluish" – dieser Spaziergang wurde immer ausdauernder. Schritt für Schritt, Herzschlag für Herzschlag.

Jennifer Depner

Billie Eilish fühlt ganz schön viel auf ihrem zweiten Album. Einsamkeit, Langeweile, Verzweiflung. Dabei ist sie doch ein Popstar. Und Popstars können ihre Gefühle nicht zeigen. Doch, und wie! In "Oxytocin" schreit Eilish verzweifelt gegen die Maschinen ihres Bruders an. So etwas gehört sich eigentlich nicht auf diesem Niveau. Aber was erlaubt ist, entscheidet zum Glück immer noch die Künstlerin.

Christopher Sennfelder

Cover 7. Black Midi
Cavalcade
Cover 7. The Notwist
Where you find me

Ihr Debüt "Schlagenheim" war nur das Aufwärmprogramm. Allein "John L", der völlig irre Opener von "Cavalcade", zeigt Black Midi im Überholmodus von rechts. Auf der Platte sind so viele geniale Querschläger verstreut, man kommt aus dem Staunen gar nicht raus. Das Beste: Komplexität und Lärm sind nie Selbstzweck, wodurch "Cavalcade" trotz seiner Versponnenheit total zugänglich bleibt. Chaos mit Methode.

Felix Heinecker

"There's a light that strung from yours to mine to yours and back again, as it all was nothing." Nein, dieses angebliche Nichts ist natürlich eher ein Alles. Erinnerungen sind nun mal zum Behalten da. "Where you find me" ist entsprechend eine Postkarte an die eigene Vergangenheit, ein aufrichtiges Grußwort mit der Sicherheit der Gegenwart: Wetter toll, Essen sehr lecker, liebe Menschen. Alles gut.

Jennifer Depner

Cover 8. Courtney Barnett
Things take time, take time
Cover 8. Tocotronic feat. Soap & Skin
Ich tauche auf

Im Wartemodus befinden wir uns doch alle irgendwie. Unsere Lieblingsaustralierin Courtney Barnett lieferte 2021 mit ihrem neuen Album den perfekten Soundtrack dazu ab. Gut Ding will schließlich Weile haben. Und wenn man dabei so kurzweiligem Indiepop lauschen darf, der an den richtigen Stellen sein Herz für sachten Schwermut offenbart, dann fällt einem das Starren auf die Uhr doch wesentlich leichter.

Kevin Holtmann

Dirk von Lowtzow und Anja Plaschg tauchen auf, wir hingegen tauchen ab. In die tiefsten Tiefen dieser trostreichen Meditation über eine vielleicht unmögliche Liebe, die Emotionen mit lockerer Hand so greifbar macht, wie es nur eben geht. Also vertraut Tocotronic – und uns: Wer sich diesem entwaffnend wunderbaren Lied öffnet und es in sein Leben lässt, braucht keine Gesellschaft, um alleine zu sein.

Thomas Pilgrim

Cover 9. Sam Fender
Seventeen going under
Cover 9. The War On Drugs
I don’t wanna wait

Stifte raus, mitschreiben: genau so muss ein Zweitwerk aussehen. "Seventeen going under" ist ein aufwühlender und bissiger Trip durch das moderne England – geleitet von einem seiner besten Songwriter in absoluter Höchstform. Wie immer hymnisch und euphorisch, dabei in seiner Ehrlichkeit entwaffnend und berührend – oder hat jemand beim Closer "The dying light" etwa keine feuchten Augen bekommen?!

Hendrik Müller

The War On Drugs auf den Spuren des FC Bayern: Man weiß, was man bekommt. Und doch spielen sie in einer eigenen Liga. Doch dann das Überraschungsmoment, wenn Dich dieser 80s-Classic-Rock-Schmachtfetzen packt und Du ergriffen den Arm gen Nachthimmel reckst. Ein Stück an der Grenze des zumutbaren Pathos. Aber ein Hit! Stilsicher eingegossen in Zement. Wie die zehnte Meisterschaft der Bayern in Serie.

Eric Meyer

Cover 10. Sufjan Stevens & Angelo De Augustine
A beginner’s mind
Cover 10. Lana Del Rey
Thunder

Alleine die Vorstellung, wie Sufjan Stevens und Angelo De Augustine nachts im Kämmerlein hocken, zusammen Filme schauen und sich vielleicht noch mit Popcorn den Magen füllen: unbezahlbar. Was das Duo dann auch noch musikalisch aus dem geselligen Heimkinoerlebnis hat entstehen lassen, markiert ein intensives und intimes Hörerlebnis, das lange nachklingt und immer wieder auf dem Plattenteller liegt.

Torben Rosenbohm

Streicher von Owen Pallett, ein perfekt getimter Gospelchor und ein paar Spitzen gegen einen "fucking Mr. Brightside", der es vermutlich gar nicht verdient hat, in einem solchen akustischen Wunderwerk verewigt zu werden. Der beste Lana-Del-Rey-Song 2021 zu sein, ist bei der Konkurrenz schon eine Auszeichnung für sich, doch "Thunder" ist mehr: ein absolutes Highlight im Katalog dieser Ausnahmekünstlerin.

Marvin Tyczkowski

11. Parannoul – To see the next part of the dream

12. Wolf Alice – Blue weekend

13. Black Country, New Road – For the first time

14. Little Simz – Sometimes I might be introvert

15. Nick Cave & Warren Ellis – Carnage

16. Japanese Breakfast – Jubilee

17. Godspeed You! Black Emperor – G_d's pee at state's end

18. Isolation Berlin – Geheimnis

19. Biffy Clyro – The myth of the happily ever after

20. Maeckes – Pool

11. Sam Fender – Get you down

12. Black Midi – John L

13. Mogwai – Dry fantasy

14. Wet Leg – Chaise longue

15. Steven Wilson – Personal shopper

16. Helloween – Best time

17. Bleachers – How dare you want more

18. The War On Drugs feat. Lucius – I don’t live here anymore

19. Drangsal – Urlaub von mir

20. Lorde – Stoned at the nail salon


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Auswertung: Kevin Holtmann
Koordination und Einleitungstext: Kevin Holtmann
Texte: Die Redaktion von Plattentests.de