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Jahrespoll 2020 – Die Favoriten der RedaktionSchaut man sich die Ergebnisse unseres Redaktionspolls an, so muss man zu der Erkenntnis kommen: Phoebe Bridgers ist die große Gewinnerin der vergangenen zwölf Monate. Ihre zweite Soloplatte "Punisher" war das unumstößliche Konsenswerk und konnte sich auch verdient den Titel Album des Jahres im Redaktionsvoting sichern. Da Musik kein Wettbewerb ist, lohnt sich auch ein Blick auf die Plätze dahinter: Fiona Apple legte ein unfassbar intensives Comeback-Album hin. Taylor Swift verwandelte sich auf "Folklore" in eine Indie-Koryphäe. Und Fontaines D.C., letztes Jahr noch auf dem Bronze-Rang, konnten auch mit dem zweiten Album unsere Jahrescharts erobern. Schön auch, dass sich ein paar alte Bekannte mit formstarken Werken zurückmelden: The Strokes, Bright Eyes und Fleet Foxes erlebten im Jahr 2020 allesamt ihren zweiten bis dritten Frühling. Und mit "Microphones in 2020" hat sich eine Platte in unsere Top Ten geschummelt, die streng genommen nur ein einziger langer Song ist. Gilt das dann überhaupt? Auch in der Kategorie Song des Jahres mussten sich alle hinter Phoebe Bridgers anstellen. "I know the end" überzeugte mit all seinen Häutungen, angefangen als stiller Folksong, der sich erst zur großen Hymne entwickelt und dann zum endgültigen Abgesang aufschwingt. Der Doppelsieg in dieser Kategorie blieb ihr nur verwehrt, weil The Weeknd mit "Blinding lights" den packendsten Pop-Song des Jahres noch vor "Kyoto" ins Ziel brachte. Vermutlich hat Phoebe sich dann mit einem linken Haken an ihm gerächt, das Covermotiv der aktuellen The-Weeknd-Platte lädt jedenfalls zu wilden Spekulationen ein. Und sonst so? Sufjan Stevens entert unsere Liste mit einer B-Seite. Future Islands sagen mit "Hit the coast" auch mal wieder Hallo. Und Protomartyr beglücken uns hier mit gleich zwei Songs, was nur gerecht ist, nachdem vor ein paar Jahren "Half sister" denkbar knapp aus der Top Ten gekegelt wurde. Wer zuletzt lacht. Ihr wisst schon. |
Album des Jahres |
Song des Jahres |
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1. Phoebe Bridgers Punisher |
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1. Phoebe Bridgers I know the end |
Wundersame, wunderliche Phoebe Bridgers. Mit einer Stimme aus Samt widmet sie sich der Mission, Seelen heile zu machen. Leise, unaufdringliche Melodien umschmeicheln den Hörer. Hinhören lohnt sich, die Hektik darf draußen bleiben. Denn Bridgers hat viel zu erzählen. Von der Liebe natürlich, aber auch von Schmerz, Trauer und Wut. Und doch überwiegt die frohe Botschaft. Es gilt, füreinander da zu sein. Christopher Sennfelder |
Als leise Folk-Ballade beginnt "I know the end" und deutet kaum an, was sich zusammenbraut: ein davonschwebender Road-Trip, der in seinem apokalyptischen Crescendo fulminant explodiert. Nachdem alle Instrumente verklungen sind, haucht Bridgers verschmitzt ins Mikro, als wüsste auch sie nicht, wo sie da gerade rausgekommen ist. Vom Persönlichen ins Universelle, ein ganzes Jahr in knapp sechs Minuten. Viktor Fritzenkötter |
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2. Fiona Apple Fetch the bolt cutters |
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2. The Weeknd Blinding lights |
Selten war Verletzlichkeit so selbstbewusst. Hier werden viele Verwundungen thematisiert, Leid und Verdruss sind federführend. Doch Fiona Apple präsentiert sich auf "Fetch the bolt cutters" als selbstbestimmtes Wesen. Nicht nur die spektakuläre Ausarbeitung der Percussions ist denkwürdig: Dieses Album bietet 13 Meisterwerke der alternativen Popmusik, eingängig, aber mal so gar nicht angepasst. Ein Triumph. Martin Makolies |
Keine Grammy-Nominierung für The Weeknd? "Korruption!", beklagt Abel Tesfaye. Können wir nicht verifizieren. Allerdings: Was soll bitte ausgezeichnet werden, wenn nicht ein superber, 80s-getränkter R’n‘B-Pop-Hit, der auch in 15 Jahren noch dauerrotieren wird? (Da das Plattentests.de-Hauptquartier leider nicht wie vereinbart mit einem 1200 Quadratmeter beheizbarem Pool ausgestattet wurde: nur Platz 2.) Stephan Müller |
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3. Bright Eyes Down in the weeds, where the world once was |
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3. Phoebe Bridgers Kyoto |
Bright Eyes und ich: Eine nicht immer liebevolle Beziehung. Dennoch war ich gespannt auf dieses Album und zuerst enttäuscht vom absurden Opener – die restlichen Songs jedoch zogen mich in ihren Bann. Aus einem Spätsommer-Flirt wurde eine Herbst-Liebe, wir haben getanzt und gesungen, auf Treppen gehockt, reisten in Gedanken von Calais nach Dover. Eingeschlagen wie ein Komet, ein Krater in Herzform. Jennifer Depner |
Vermutlich ging es mir wie vielen: Phoebe Bridgers war für mich eine von vielen starken Singer-Songwriterinnen, nach "Motion sickness" und dem passenden Album, nach Kooperationen mit Conor Oberst, nach kreativen Artworks und Titeln. Dann kam "Kyoto". Ein Wahnsinnssong läutete ihren Aufstieg ein. Von geschätzt zu geliebt. Jetzt ist sie Konsens-Künstlerin der Indie-Fans. Sie hat es so was von verdient! Armin Linder |
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4. Taylor Swift Folklore |
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4. Fleet Foxes Can I believe you |
Auf einem ihrer größten Hits sang Taylor Swift einst: "And you would hide away and find your peace of mind / With some Indie record that's much cooler than mine." Nun hat sie selbst dieses Album gemacht: 16 Folk-Pop-Kleinode voll intimer Schönheit und Geschichten, die vor Lebenskenntnis strotzen. Wenn die coolen Indie-Kids noch einen Beweis brauchen, welch wunderbare Songs diese Frau schreibt, hier ist er. Viktor Fritzenkötter |
Ich war dabei beim Live-Stream zur Veröffentlichung von "Shore". Gefesselt von der ersten Sekunde, merkwürdig emotional auch. Dann: "Can I believe you", der schon bei diesem ersten Hören mein Lieblingssong des Albums – und des Jahres! – wurde. Die Tatsache, diesen Moment gleichzeitig mit Millionen Fremden auf aller Welt geteilt zu haben, berührt mich noch heute und spendete nicht nur damals Trost. Jennifer Depner |
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5. Fontaines D.C. A hero’s death |
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5. Future Islands Hit the coast |
Rudi Carrell weilt nicht mehr unter uns. Fontaines D.C. werden ihn wohl nicht einmal kennen. Doch die jungen Wilden aus Dublin lassen überraschen. "A hero’s death" hat nicht die Hits des fulminanten Debüts. Es schaut auch nicht nach Post-Punk-Gepflogenheiten, sucht Schatten im Licht des Szene-Hypes, findet Melancholie inmitten der Euphorie. Und hat genau deswegen einen faszinierend langen Atem.
Eric Meyer |
Alles an seinem Platz. "Hit the coast" ist der perfekte Abschluss einer mal wieder grandiosen Platte von Future Islands. Der Blick wird weiter gefasst, die Synthie-Melodien schwelgen und die Melodien bilanzieren einen endlosen Sommertag. Dazu diese Stimme von Samuel Herring, die sich gleichzeitig um die Roger-Whittaker-Medaille für großväterlichen Soul und ein Extra an Herzrasen bewirbt. So macht man Schluss. Martin Makolies |
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6. Friends Of Gas Kein Wetter | ![]() |
6. Sufjan Stevens My Rajneesh |
Freizeitgestaltung mit Friends Of Gas. Heute: "Im Abwasser schwimmen gehen und nicht an die verbale Sprache glauben." Letzteres kommt für unsere fleißigen Schreiber zwar nicht in Frage, Ersteres könnte aber richtig Bock machen. Zumindest mit diesem gleichzeitig maximal grobschlächtigen und pointierten Noise-Rock-Meisterwerk. Effektiver und vor allem schöner konnte man sich 2020 nicht plattwalzen lassen. Thomas Pilgrim |
Eine Kreativkanone wie Sufjan Stevens zu tadeln, liegt mir fern. Deshalb möchte ich nur freundlich darauf hinweisen, dass "My Rajneesh" wunderbar multikontinentale Einflüsse balanciert und exzellent changiert zwischen Opulenz und Fragilität, Minimalismus und Orchestrierung sowie Analogem und Digitalem. In aller Bescheidenheit frage ich daher: Warum zur Hölle ist das Meisterstück nur eine B-Seite? Stephan Müller |
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7. The Microphones Microphones in 2020 |
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7. Protomartyr Worm in Heaven |
Es ist ein Album, es ist ein Song, es ist keins von beidem. Mit "Microphones in 2020" kehrt Phil Elverum in exakt 44:44 Minuten mit einem Meisterwerk zu seinem alten Moniker zurück. Viel wichtiger: Der Trip in seine Vergangenheit und Gegenwart nimmt mich selbst mit auf die Reise ins Unterbewusste, lässt Zeit und Raum vergessen. Das Video dazu wurde mit alten Fotos aus seinem Eigenarchiv hinterlegt: wie passend. Felix Heinecker |
Joe Casey bringt es auf den Punkt: "Ich verarbeite seit zehn Jahren musikalisch den Tod meines Vaters. Es wird Zeit für etwas Neues." Zum Beispiel für dieses wundersam trostreiche Stück, in dem Casey nicht nur das Licht in der Düsternis, sondern auch seinen inneren Nick Cave entdeckt. Nebst missmutigem Gitarrenlärm natürlich – und dem guten Rat "keep a knife in your purse". Machen wir, Joe. Danke dafür. Thomas Pilgrim |
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8. Fleet Foxes Shore |
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8. Fiona Apple Cosmonauts |
"Shore" ist der Goldtopf am Ende des Regenbogens. Ein Album, gesponnen aus purem Melodiegold, harmonisch, dicht, poetisch und abwechslungsreich. Klangen Fleet Foxes auf dem Vorgänger noch verkopft und verschachtelt, so ist dieses Album der euphorische Befreiungsschlag. Und wenn man dieses Jahr eines gebraucht hat, so doch genau dies: ein kathartisches Werk, das optimistisch ist, ohne die Gegenwart zu verklären. Kevin Holtmann |
Fiona Apple ist zurück, und im Gepäck hat sie waidwunde Schmerzensgeschichten, rhythmische Verrenkungen und jede Menge Wut. Doch bei aller Intensität hat die Künstlerin nicht vergessen, wie man Herzen erobert. Mit einem schaurig-schönen Song wie diesem hier gelingt das problemlos: "You and I will be like a couple of cosmonauts." Aus Bass, Klavier und exaltierter Stimme baut Apple uns allen ein Raumschiff. Kevin Holtmann |
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9. Turbostaat Uthlande |
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9. Protomartyr Processed by the boys |
Wenn Punkbands zurückblicken, halte ich immer den Atem an, denn häufig ist das ein Zeichen, dass man sonst nichts mehr zu sagen hat. Eine solche Rückschau verkommt meist zur kitschigen Verklärung. Turbostaat haben mit "Uthlande" allerdings keineswegs enttäuscht und ein musikalisch wie inhaltlich relevantes Brett geliefert, das bei aller Retrospektive genug Stoff für Reibung und zum Nachdenken bietet. Florian Ernst |
Protomartyr sind die Symbiose aus noisigen Passagen und tollen Melodien. Auch diesmal hacken die Drums wieder ein dystopisches Szenario in Bruchstücke, von dem nicht ganz klar ist, ob es sich um die Gegenwart oder die Zukunft handelt. Dazu dröhnt die Gitarre und Joe Casey predigt mit seiner unverwechselbaren Stimme, um am Ende vom harmlos und unbeteiligt dudelnden Saxofon versöhnt zu werden. Florian Ernst |
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10. The Strokes The new abnormal |
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10. Porridge Radio Born confused |
Eigentlich waren The Strokes dazu bestimmt, an "Is this it" zu zerschellen. Wären sie auch fast. Aber irgendwie haben sie sich durchgekämpft. Durch Weltruhm, kreative Krisen, lange Pausen. Das ganze Programm. Und plötzlich stehen sie auf der anderen Seite. Mit dem lässigsten Album seit langem winken sie uns lachend zu. Fast so, als hätten sie das alles geplant. Zeit für Narrenfreiheit bleibt genug. Christopher Sennfelder |
Die Wut im Bauch, das Dagegen-Sein, die Rebellion: In den Neunzigern standen Punk und Grunge für diese Haltung – und keine verschwörungsgläubigen Null-Denker. Mit Terror, Twitter, Trump und Tinder kam zurück, was einst Auslaufmodell war: "Born confused" ist verzweifelt, rau, einfühlsam und catchy zugleich – und bläst dann zum wahnsinnigen Aufbruch. Porridge Radio liefern die moderne Teenage Angst. Eric Meyer |
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12. The Flaming Lips – American head 13. Porridge Radio – Every bad 14. The Smith Street Band – Don’t waste your anger 15. Protomartyr – Ultimate success today 16. Future Islands – As long as you are 19. This Is The Kit – Off off on 20. Deftones – Ohms |
14. Everything Everything – Violent sun 15. Soccer Mommy – Circle the drain 17. Bob Dylan – Murder most foul 18. Matt Berninger – Distant axis |
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Auswertung: Kevin Holtmann
Koordination und Einleitungstext: Kevin Holtmann
Texte: Die Redaktion von Plattentests.de