Special
Jahrespoll 2018 – Die Favoriten der RedaktionEin Jahr ohne die großen Favoriten geht zu Ende. The National, Radiohead, Bon Iver, Arcade Fire, Sufjan Stevens: Sie alle veröffentlichten 2018 kein Album. Heißt im Umkehrschluss aber auch: mehr Platz für vergleichsweise Ungewöhnliches und Unbekannteres in unseren Jahresend-Charts. Am Ende gelang dem sympathischen Wahl-Berliner Sam Vance-Law ebenso der Sprung in unsere Top Ten wie der schwedischen Düster-Organistin Anna von Hausswolff. Fucked Up wuchten sich mit ihrem Achtzigminüter "Dose your dreams" aufs Treppchen, und für International Music läuft es genauso, wie sie es bestellt haben: bestens. Ganz an der Spitze indes doch alte Favoriten: Tocotronic liefern mit "Die Unendlichkeit" das Album des Jahres, weil sich letztlich nahezu jeder auf das Spätwerk der Herren einigen kann. Wir leben doch alle in einem wilden Wirbel! Beim Song des Jahres gab es ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen der Indie-Schluffies. Am Ende siegte "Talking straight", die umwerfend umwerfende Slacker-Hymne der Australier Rolling Blackouts Coastal Fever. Kurt Vile schaut derweil bedröppelt drein, freut sich aber sicherlich auch über die Silber-Medaille für seine "Loading zones". Und Snail Mail, die mit "Pristine" in nahezu allen Endabrechnungen weit oben zu finden ist, darf freilich auch im Hause Plattentests.de nicht fehlen: Platz 3 und direkte Quali für die Champions League! Auch dabei: Gouge Away mit ihrem furztrockenen Noise-Punk-Kracher "Ghost" und Idles mit der politisch aufgeladenen Hitsingle "Danny Nedelko". Und jetzt alle: "My blood brother is an immigrant! …" |
Album des Jahres |
Song des Jahres |
||
---|---|---|---|
![]() |
1. Tocotronic Die Unendlichkeit |
![]() |
1. Rolling Blackouts Coastal Fever Talking straight |
2018 war das Jahr, in dem wir Dirk von Lowtzow in sein Kinderzimmer folgen durften: "Die Unendlichkeit" berichtete autobiografisch von der Jugend in der Provinz, von der Punk-Werdung, von der Sozialisierung in der Hamburger Schule. Ein Album als, nun ja, Entwicklungsroman, mit einem jungen (Anti-)Helden, der seine elektrische Gitarre und seine Worte als Waffen gegen den Starrsinn der Welt einsetzt. Toll! Kevin Holtmann |
Drei Sänger, drei Songschreiber, drei Gitarristen – das australische Triple stammt von einem Quintett namens Rolling Blackouts Coastal Fever. Wer braucht schon einen griffigen Namen, wenn er griffige Songs hat. Von all den Hits, die sie schreiben, die keine Hits werden, ist "Talking straight" das Cabrio-Futter im November-Regen. Schnoddrig, lässig, ein bisschen spröde und unwiderstehlich zugleich. Stephan Müller |
||
![]() |
2. Anna von Hausswolff Dead magic |
![]() |
2. Kurt Vile Loading zones |
Wie war der Tatort? Heute: Die aberwitzige Anna. Dieses Jahr wurden wir Zeugen, wie die Hauptdarstellerin sich eindrucksvoll mit Post-Metal-Getöse und gravitätischer Wucht an Vandalen rächt, die ihre Kirchenorgel zersägen wollen. Insbesondere "The mysterious vanishing of Electra" gebührt das Prädikat Meilenstein. Wir genießen das wohlige Gruseln und konstatieren: Da kommt keine Harfentrulla der Welt mit. Thomas Pilgrim |
Goldener Herbst, endlich Urlaub, aber unendliche Weiten und scheinbar ebenso unerschöpfliche Möglichkeiten. Hauptsache raus! Mit dabei: Kurt Vile und seine entspannte Ode ans kostenlose Parken – und an seine Heimat, natürlich. "How beautiful to take a bite out of the world" singt er, während ich ihm sowie uns allen guten Appetit wünsche. Und in der Ferne merke: Zuhause ist es doch am schönsten. Jennifer Depner |
||
![]() |
3. Fucked Up Dose your dreams |
![]() |
3. Snail Mail Pristine |
Totgesagte leben länger: Dafür, dass der Punk-Rock noch immer quicklebendig ist, gab es in über 40 Jahren Genre-Geschichte kaum ein eindrücklicheres Zeugnis als "Dose your dreams". 82 Minuten und gefühlt genauso viele Stile und Instrumente verpacken Fucked Up in ihr bis dato ambitioniertestes Werk, das jeden "Das ist doch kein Punk mehr!"-Schreier mit Anlauf von den Füßen reißt. None of your business, man! Marvin Tyczkowski |
Dank Streaming und Scrobbeln wird der Musikfan im Dezember von den eigenen Hörstatistiken quasi übermannt. Manchmal nervig, im Falle von "Pristine" aber ist jeder Widerstand zwecklos: Dieses hübsch verhuddelte, melancholische und doch befreiende Stück Indierock krallte sich im Jahr 2018 klammheimlich in die Dauerschleife und passte zu jeder Zeit. "Is there any better feeling than coming clean?" Eric Meyer |
||
![]() |
4. Beach House 7 |
![]() |
4. International Music Mama, warum? |
Man neigte dazu, es für selbstverständlich zu halten, dass Beach House alle paar Jahre ein tolles Album ohne viel Innovation herausbringen. Dass sie live abermals vollkommen umwerfen. Dann nannten sie ihre siebte LP auch noch schlicht "7". Ideenlos? Pff. Bedenken wurden von der neu entdeckten, verzerrten Wucht weggefegt. Beach House gehören Stand 2018 nicht nur zum Inventar. Sondern zu den ganz Großen. Felix Heinecker |
Ein Forumsuser so: "Das ist viel viel genialer, als es der Rezensent verstanden hatte." Er darauf so: Zu sehen, dass dieser Song inhaltlich wertende Diskussionen über Sinn und Unsinn bewirkt, ist fast so schön, wie ihn zu hören. Zu Space-Kraut, Adiletten-Gaze und Gaga (ohne Lady, natürlich) weitete sich 2018 fast jedes Herz zu einem saftigen Steak. Musik, die Leben retten kann. Und Mama ist die Bestie. Thomas Pilgrim |
||
![]() |
5. Ben Howard Noonday dream |
![]() |
5. Pete Yorn & Scarlett Johansson Bad dreams |
Ben Howards Zugeständnis an die Sonnyboy-Erwartungs-Fraktion: Er hockt sich für das Cover von "Noonday dream" in der Wüste ins gleißende Licht. Reicht. Die introspektiven Tagträumereien, Echo- und Disharmonie umarmende Effekte im Gitarrensound und minimalistische Klimax-Gebilde sind das Fundament des nächsten Kapitels der Big-Ben-Theory. Das Beste: Sie läuft nicht in Dauerschleife auf ProSieben.
Stephan Müller |
Ja, Scarlett Johansson macht nicht erst seit 2018 Musik. Doch so gut wie in ihrer erneuten Zusammenkunft mit Indie-Kauz Pete Yorn war sie darin noch nie. Die dazugehörige EP "Apart" kann das Niveau zwar nicht halten, doch in "Bad dreams" vertonen zwei wundervoll ausdrucksstarke Stimmen die pure Pop-Perfektion. Ein bisschen 80er, ein bisschen Fleetwood Mac, ein himmlischer Refrain – so simpel, so großartig. Marvin Tyczkowski |
||
![]() |
6. Florence & The Machine High as hope |
![]() |
6. Isolation Berlin Vergeben heißt nicht vergessen |
Seit Jahren lehrt uns Florence Welch, wie befreiend es sein kann, alle Vorsicht fahren zu lassen, die wohl gepflegte Alltagsmaske abzulegen und sein Innerstes nach außen zu kehren. Noch nie tat sie das so elegant wie auf "High as hope". Unglaublich, welche Jammertäler und Himmelsfreuden sie trotz ihres neuen sanften Sounds zu Gehör bringt. Musik mit der man zuversichtlich auch ins neue Jahr starten kann. Eva-Maria Walther |
"Und dann fällt der Schnee": Am Ende wirft der Himmel sein Laken über all den Schmerz, die Mühen, den Willen, das dauernde Scheitern. Und es wird gut werden. Das ist, was Isolation Berlin hier festhalten: die Hoffnung. Und doch tut jede Silbe, jeder Akkord in diesen fünf Minuten arschweh. Weil das Leid, die Sau, der Freude immer die Schau stehlen will. Dieser Song geht fast zu nah. Ich liebe ihn. Pascal Bremmer |
||
![]() |
7. Courtney Barnett Tell me how you really feel |
![]() |
7. Idles Danny Nedelko |
Wenn Sympathie und Talent aufeinandertreffen, kann das großartig sein. Als hätte es für diese recht banal wirkende Erkenntnis tatsächlich noch einen Beweis gebraucht, liefert Courtney Barnett diesen nun schon zum dritten Mal in Folge. Ob angepisst, verträumt, melancholisch, gut gelaunt oder fauchend: In jeder Lebenslage war Courtney Barnett gleich liebenswert und damit auch eine treue Begleiterin 2018. Marcel Menne |
Logische Schlussfolgerung: Aus Angst wird Panik, aus Panik wird Schmerz, aus Schmerz wird Wut und aus Wut letztendlich Hass. Diese teuflische Kettenreaktion erlebt man derzeit immer wieder, in den Medien, in den Kommentarspalten, überall. Die überaus sendungsbewusste UK-Band Idles liefert den Soundtrack zur Krise, in Form dieser zupackenden Postpunk-Hymne, die uns dieses Jahr alle schwindelig spielte. Kevin Holtmann |
||
![]() |
8. Sam Vance-Law Homotopia |
![]() |
8. Gouge Away Ghost |
Es ist wie bei "How bizarre" von OMC: Wenn man nur einmal "Parmesan" hört, kann man den Song nie wieder ohne genießen. Und seit mir jemand "Eimerboy" für den wohl besten Album-Song "Prettyboy" eingepflanzt hat, ist es hier genauso. Trotzdem macht "Homotopia" nachhaltig Spaß, von der ersten bis zur letzten Sekunde. So regenbogenbunt, albern und gleichzeitig subtil ausgefeilt kann Pop sein. Armin Linder |
Da ist er, der vielzitierte, jetzt aber definitive Soundtrack für den Untergang. Mit einem Basslauf, der nicht sicher ist, ob er wirklich weiterleben will, mit Gruselsolo und mit einer lyrischen Beziehungstod-Nabelschau, die eiskalt in den Nacken greift: "It makes me wonder / If I‘ve passed away / Or been invisible the whole time." Die Schönheit des Verfalls, meisterhaft in Post-Hardcore gegossen. Martin Smeets |
||
![]() |
9. International Music Die besten Jahre |
![]() |
9. Young Fathers In my view |
"Die besten Jahre sind vorbei", singen International Music. Am Arsch, the best is yet to come für die drei Jungs mit ihrem Krautrock zwischen Landschulheim und Nervenheilanstalt. Irgendwo auf jener Strecke befindet sich mein Lieblingsort und deshalb ist diese Platte mein liebstes Album 2019. Es ist witzig und klug, aber auch tragisch und verkopft, Hirnfurz meets Mindfuck. Und es groovt obendrein. Pascal Bremmer |
Man-oh-man-oh-man, was für ein Hit. Exotisch genug, um einem morgens den Schlaf auszutreiben, und doch so poppig, dass man ihn am Abend noch summt. Young Fathers vereinen in diesem Lamento eines Mannes auf der Suche nach Erlösung vorbildlich Köpfchen mit einem untrüglichen Instinkt für Melodien. Kein Wunder, dass das Resultat den Intellekt und irgendein primordiales Gefühl gleichzeitig stimuliert. Eva-Maria Walther |
||
![]() |
10. Parquet Courts Wide awake! |
![]() |
10. Ben Howard A boat to an island on the wall |
New York und kauziger Garagenrock – spätestens seit The Strokes, und allen Hipstertrends zum Trotz, überdauert diese Liaison nun sogar Uns-Helene-und-Flori. Parquet Courts, immer schon eine Herzensband der Plattentests.de-Redaktion, erweitern ihr Repertoire um Funk, Beat, Klavier und Hammondorgel. 70s-Vibe meets Garage-Punk, oder "Wide awake!" – das wohl vielseitigste Rockalbum des Jahres 2018. Eric Meyer |
Die Intensität könnte purer Sex oder wallende Eifersucht sein. "A hand striking in slow motion." Ist es ein Streicheln, ein Schlag? Ist die prägende, aufheulende Gitarre in der zweiten Songhälfte ein orgiastischer Laut oder ein zorniges Zähnefletschen? Gar beides? "A boat to an island on the wall" hält sich mit Details bedeckt und ist doch unfassbar emotional. Nur Genies wie Ben Howard schaffen das. Felix Heinecker |
||
11. Arctic Monkeys - Tranquility Base Hotel & Casino 12. Rolling Blackouts Coastal Fever - Hope downs 16. Soap & Skin - From gas to solid / You are my friend 17. Garda - Odds 18. Isolation Berlin - Vergifte Dich 20. Thrice - Palms |
11. Courtney Barnett - Need a little time 12. Tocotronic - Electric guitar 13. J Mascis - See you at the movies 14. Bring Me The Horizon – Wonderful life |
ZU DEN LESER-FAVORITEN 2018
ZUM DISKUSSIONSTHREAD IM FORUM
Ältere Redaktionspolls:
2017 |
2016 | 2015 | 2014 | 2013 | 2012
| 2011 | 2010 | 2009 | 2008 | 2007
| 2006 | 2005 | 2004 | 2003 | 2002
Auswertung: Kevin Holtmann
Koordination und Einleitungstext: Kevin Holtmann
Texte: Die Redaktion von Plattentests.de