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Jahrespoll 2015 – Die Favoriten der Redaktion

Wir alle wissen, dass 2015 in Politik und Gesellschaft ein ziemliches Mist-Jahr war. Immerhin in der Musik gab es reichlich Grund zur Freude. Da wären zum einen Bilderbuch und Wanda, die unter Beweis stellten, dass Österreich mehr kann als Mozartkugeln und Schnitzel. Auch top: Kamasi Washington und Kendrick Lamar. Zwei Musiker, die mit ihren jeweiligen Werken die Grenzen in unseren Köpfen sprengten. Und während die einen sich glückselig ob der gelungenen Blur-Reunion in den Armen lagen, feierten die anderen das tolle Debüt von Courtney Barnett. Dass am Ende "Carrie & Lowell" von Sufjan Stevens unser Album des Jahres geworden ist, war auch irgendwie klar: Mindestens drei Kollegen würden dieser Platte mittlerweile wohl die Höchstwertung geben.

Auch auf der Kurzstrecke, also bei den Songs, wusste 2015 zu überzeugen. "Blackstar" machte uns allen schon den Mund wässrig auf das neue Album des Grandseigneurs David Bowie, während sich die beiden Girls von Schnipo Schranke auf unappetitlichere Themen konzentrierten. Zweimal in dieser Top 10 zu finden ist Redaktionsliebling Sufjan Stevens, der herzzerreißend schöne Lieder über den Tod seiner Mutter sang. Hemdsärmeliger wirkten dagegen Adam Angst, die sich mit "Splitter von Granaten" den gesellschaftspolitischen Frust von der Leber rotzten. Zum Song des Jahres reichte es nicht ganz. Diesen Titel holten zum zweiten Mal in Folge Wanda. Auf "Bologna" folgte "Meine beiden Schwestern". Herzlichen Glückwunsch, Ihr Pferdelungen!

Album des Jahres

Song des Jahres

Cover 1. Sufjan Stevens
Carrie & Lowell
Cover 1. Wanda
Meine beiden Schwestern

Das Musikjahr 2016 hat jetzt schon ein großes Problem. Und das heißt "Carrie & Lowell". Sufjan Stevens schuf mit diesem Album sein Meisterwerk in Melancholie. Es behandelt das Verhältnis zu den eigenen Eltern, es erzählt von Stevens' Jugend und dem tragischen Tod seiner Mutter. Es ist das schönste Album der letzten Jahre. Von mir gibt es dafür eine runde 10/10. Die Latte für das neue Jahr könnte kaum höher liegen.

Kevin Holtmann

Zwei Alben in weniger als einem Jahr und gleich als erste Band überhaupt zum zweiten Mal den Song des Jahres rausgehauen! Wo soll das noch hinführen? Wurde 2014 noch die Cousine mit besoffener Euphorie besungen, sticht bei "Meine beiden Schwestern" bereits der Kopf. Noch immer benebelt von den "Flaschen von gestern" lauert hinter jeder Zeile der Weltschmerz. Meist ist man allein, aber "hin und wieder steh'n wir uns nah."

Marcel Menne

Cover 2. Tocotronic
Tocotronic (Das rote Album)
Cover 2. Adam Angst
Splitter von Granaten

Welch eine Schmach! Tocotronic auf Platz 2 und ich habe das rote Album mit 5/10 abgestraft. Wegen Schlagerlastigkeit damals, heute würde ich sagen: wegen Vorhautverengung oder der Engstirnigkeit des Prolo-Rezensenten. Fakt ist nunmehr: Ich liebe die Platte. Ich habe mich geirrt, und dachte dabei, ich sei ein echter "Rebel boy". In Zukunft heißt es "Ich öffne mich", bevor ich ansetze zu schreiben. Versprochen!

Pascal Bremmer

Ernsthaft, was war los mit diesem Jahr? Adam Angst besingen schreckliche Zeiten, voller Hass in jede Richtung. Doch eben dort, wo jeder gegen jeden hetzt, gilt es besser mahnend den Finger zu heben: Müssen unsere Kinder erst mit "Splittern von Granaten" spielen, bis wir uns endlich empören und engagieren? Die passende Vornahme fürs neue Jahr ist so auf jeden Fall ganz schnell gefunden.

Pascal Bremmer

Cover 3. Blur
The magic whip
Cover 3. Foals
Mountain at my gates

Zwölf Jahre mussten verstreichen. Und dann klingen Blur in "Lonesome street" doch wie damals: lausbübisch, aufsässig, hymnisch. Die Fans werden bedient. Dennoch hat Albarn die Nachdenklichkeit seiner anderen Projekte mitgenommen, etwa im menschheitsskeptischen "There are too many of us". "The magic whip" wäre dennoch weniger ohne die wieder so wohlklingenden Coxon-Gitarren. Das Comeback des Jahres!

Maximilian Ginter

Sogar in der Provinz wird er heute für tot erklärt – der gute alte Indie-Rock. Doch Foals schert das nicht im Geringsten: Knackiger Zappelbeat, überschwänglich flirrende Gitarren, großer Refrain und ein wahrhaftig arschtretendes Finale: "Mountain at my gates" ist unsere Indie-Rock-Perle des Jahres 2015 – und ein bisschen wie ein großes, frisch gezapftes Bier: In vielen Momenten unübertrefflich.

Eric Meyer

Cover 4. Wanda
Bussi
Cover 4. Courtney Barnett
Pedestrian at best

Zur "Amore" passt das "Bussi" wie der Heurige nach Wien. Im Geiste des Debüts zelebrieren Marco Michael Wanda und Band auch auf ihrem Zweitwerk das große Ganze und den Schnaps dazwischen. Während die Geschmackspolizei mangelnde Entwicklung bemäkelte, erobern die Österreicher weiterhin ungeniert Herzen und Kneipen dieser Welt, ohne dabei angestrengt zu wirken. Wanda sind eine Eskalation, die süchtig macht.

Christopher Sennfelder

Guter Vorsatz für 2016: Courtney Barnett im Taxi ein Lied von den Triffids vorsingen. Als kleines Dankeschön für diesen Hit aus ihrem tollen Debütalbum, der Indie-Rock und Grunge mit schrulligen Alltagsgeschichten verzahnt und das Riff von Babyshambles' "Delivery" stibitzt. Und obendrein praktische Freizeittipps für Fingerfertige enthält: "Give me all your money and I'll make some origami, honey." Alter Falter.

Thomas Pilgrim

Cover 5. Courtney Barnett
Sometimes I sit and think, and sometimes I just sit
Cover 5. Sufjan Stevens
The only thing

Courtney Barnett hat das seltene Talent, in ihren Songs aus Banalitäten faszinierend-absurde Kurzgeschichten zu basteln und dann jede einzelne Zeile mit einer beiläufigen Schludrigkeit dahinzusingen, dass es eine Freude ist. Und wer gleich im Opener eine Anspielung auf "SimCity" unterbringt, hat eh gewonnen. Aber auch die anderen Stücke machen Spaß. Mindestens so viel wie Barnett beim Malträtieren ihrer Gitarre hat.

Maik Maerten

Auf einer emotional aufgeladenen Platte voll fesselnder Filigranität und Intimität steht kein Song näher an der Grenze zwischen Leben und Tod. Das Leben von Stevens' Mutter, das Spannungsfeld zwischen Liebe und Nicht-Geliebtwerden, von Suizid und Überlebenswillen verpackt er in ein zartgezupftes, porzellangleiches Kunstwerk. Wir vergießen Tränen. Weil wir mitfühlen und dankbar sind, dass Stevens uns teilhaben lässt.

Stephan Müller

Cover 6. Bilderbuch
Schick Schock
Cover 6. The Slow Show
Dresden

Bilderbuch sind mit "Schick Schock" zum "Enfant terrible der Schickeria" mutiert und haben sich mit Goldstaub, Zuckerwasser und Schweiß benetzt. Ein Album voller Ideen, lässig und sinnlich. Ein Album, das die schönsten Worte säuselt und zu den poppigsten Gitarrensoli die Hüfte immer ein wenig weiter nach vorne schiebt. Ein Album, das permanent zärtlich über den Nacken streichelt. Welch zarte Versuchung!

Andreas Menzel

Eine Band, die so sehr nach The National klingt, dass sie sich nach einem ihrer Songs benannt hat? Konsequent! Birgt aber auch die Gefahr epigonal eingefärbter Ödnis. Eine Gefahr, die The Slow Show glücklicherweise stets elegant umschiffen. Weil sie Songs wie "Dresden" schreiben, die irgendwo zwischen morbidem Gesang und euphorischen Bläsern stets die goldene Mitte zwischen Herz und Hirn treffen. Unwiderstehlich.

Martin Smeets

Cover 7. The Tallest Man On Earth
Dark bird is home
Cover 7. Tocotronic
Die Erwachsenen

Oktober, Köln. Kristian Matsson turnt komplett in Weiß über die Bühne, als sei er ein Rockstar mit Epilepsie. Dabei präsentiert er den traumwandlerischen Folk-Pop aus "Darkness of the dream" und führt am Klavier in "Little nowhere towns". Am Ende der Platte steht mit "Now I need to go / Oh fuck!" der textlich wohl beste Abgang aus 2015. Nur eine Frage der Zeit, bis Fußmatten ausschließlich ihn willkommen heißen.

Stephan Müller

Achtung, Babies: Misstraut allen, die Euch erzählen wollen, das rote Album von Tocotronic tauge nichts. Ihr müsst ihnen jedoch nicht gleich ins Gesicht spucken – spielt ihnen stattdessen ein, zwei Mal diese federleichte Dream-Pop-Schönheit mit elektronischem Flausch vor. Wer danach nicht bis zur Müdigkeit knutschen will, hat entweder ein Herz aus Stein oder "Die Erwachsenen" nicht gehört. Wir prangern beides an.

Thomas Pilgrim

Cover 8. Tame Impala
Currents
Cover 8. Sufjan Stevens
Should have known better

Kevin Parker hat auf "Currents", dem dritten Tame-Impala-Album, zu sich selbst gefunden, indem er einfach tat, was er wollte – nicht, was man von ihm erwartete. Es zahlte sich aus: Den Exzess von "Let it happen", den Kitsch von "Yes I'm changing", den Funk von "The less I know the better", all das haben wir 2015 gebraucht, ohne es zu wissen. "I know that I'll be happier / And I know you will, too". Recht hat er.

Jennifer Depner

Der Moment, in dem man vom Tod eines Elternteils erfährt, reißt einem den Boden unter den Füßen weg. Genau diesen fasst Sufjan Stevens auf "Should have known better" zusammen und lässt seine Hörer mitfühlen, aber auch mitleiden. Wie schön kann Trauer sein? Wie lieblich der Schmerz? Wie hoffnungsvoll die Ungewissheit? Tausend Mal brachen unsere Herzen mit ihm, tausend Mal schlugen sie schneller wegen ihm.

Jennifer Depner

Cover 9. Locrian
Infinite dissolution
Cover 9. Youth Lagoon
Highway patrol stun gun

Locrian haben mit "Infinite dissolution" vermutlich die am schwersten verdauliche Wuchtbrumme von Album in diesem Jahr aufgenommen. Irgendwo zwischen Black Metal, Drone und Industrial werden hier Songs ausgewalzt, die selbst an den hellsten Orten noch das Licht ausknipsen würden. Und zwar so, dass es auf absehbare Zeit nicht mehr angeht. Ein apokalyptisches, geradezu garstiges Werk. Im besten Sinne.

Martin Smeets

Die hermetische Ich-Bezogenheit hinter sich lassend, öffnet sich Trevor Powers erstmalig auch für gesamtgesellschaftliche Themen und entwirft in "Highway patrol stun gun" eine Drohkulisse auf der Basis schon jetzt alltäglicher Polizeigewalt. Da stimmt es zuversichtlich, dass die so ausdauernd leichtherzige Klaviermelodie des Stückes sich trotz Elektroschockern und Sirenen bis zum Schluss nicht unterkriegen lässt.

Andreas Menzel

Cover 10. Joanna Newsom
Divers
Cover 10. Macklemore & Ryan Lewis
Downtown

Verlustaversionen als Triebfedern der Kunst und sie suhlt sich in der Angst davor, den ihrigen Geliebten zu verlieren. Bei Newsom: gewohnt graziös und maßlos. Neu hingegen: Das Impulsive, gar Brachiale, wie in "Leaving the city". "Divers" ist konzentriert und mit knapp 52 Minuten Newsoms kürzestes Album. Dieses Jahres-Highlight bleibt trotzdem mystisch, unbegreiflich. Rätselnd wird gehuldigt.

Maximilian Ginter

Kommt ein Mann in einen Mopedladen... Was klingt wie ein Witz, ist auch einer. "Downtown" zählt nicht zu den anspruchsvollsten HipHop-Tracks des Jahres, dafür gibt es Kendrick Lamar und so. Aber es ist der ultimativ spaßigste. Fährt langsam an und gibt dann richtig Gas. Und plötzlich feiert halb Plattentests.de einen bislang eher verpönten Act. "Whole downtown yelling out: 'Who that is?'"

Armin Linder

11. Love A – Jagd und Hund

12. Steven Wilson – Hand. Cannot. Erase.

13. Foals – What went down

14. Destroyer – Poison season

15. Beach Slang – The things we do to find people...

16. Beach House – Depression cherry

17. Kamasi Washington – The epic

18. Unknown Mortal Orchestra – Multi-love

19. Kendrick Lamar – To pimp a butterfly

20. Algiers – Algiers

11. Waxahatchee – Air

12. Blur – There are too many of us

13. David Bowie – Blackstar

14. Schnipo Schranke – Pisse

15. Villagers – Hot scary summer

16. Blur – Pyongyang

17. Love A – 100.000 Stühle leer

18. Frank Turner – The next storm

19. Matthew E. White – Holy moly

20. Torres – Strange hellos


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Auswertung: Kevin Holtmann
Koordination und Einleitungstext: Kevin Holtmann
Texte: Die Redaktion von Plattentests.de