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Jahrespoll 2009 – Die Favoriten der RedaktionDie Redaktion von Plattentests.de lässt sich ganz bestimmt niemals den Verdacht auf Einheitsgeschmack anhängen. Behaupten wir nicht nur, ist auch so. In unserer Endjahresrangliste tauchen nämlich gerne Platten ziemlich weit vorne auf, die vorher eher heimliche Favoriten waren. Was eine wunderbare Mischung mit denen ergibt, die wir ohnehin das ganze Jahr über liebten. Am Jahresende ist wie gewohnt Schluss mit Heimlichtuerei: Das hier sind unsere ganz offiziellen Favoriten 2009. Mit einem Album des Jahres, das zum Rezensionszeitpunkt die Höchstwertung knapp verpasst hatte, aber dennoch nach und nach das gesamte Team verzaubern konnte. Bei den Songs verwies dann aber doch Gossips quietschbunter Konsenssong für Indie-Disko und Bierzelt, für Rockfestival und Castingshow die frisch gekürten Redaktionslieblinge Mumford & Sons auf die Plätze. Gut so? Das müsst Ihr uns im Forum sagen. |
Album des Jahres |
Song des Jahres |
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1. Mumford & Sons Sigh no more |
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1. Gossip Heavy cross |
12. Oktober, Ina Simone Mautz stellt sich quer gegen eine "Majestätisch"-Überschrift zu ihrer Rezension und meint: "Finde ihre Rustikalität stärker als den majestätischen Aspekt." Unser aller Album des Jahres ist halt wie guter Wein: Jeder schmeckt was anderes raus. Nimm dies, Ina: Ich sage rauchig im Bouquet, weich in der Textur, fruchtig in der Kopfnote, füllig im Abgang. Mit einer Ahnung von rustikaler Ananas. Armin Linder |
Da konnte Heidi Klum noch so viele kleine Seals züchten: Weil Beth Ditto für diesen Leib nicht einmal schwanger sein musste, konnte sie den fettesten Wurm 2009 raushauen. Gossips Hit war Soul, Punk, Disco, Pop und alles. Kein Wunder, dass an "Heavy cross" nicht nur die Möchtegern-Popstars von ProSieben scheiterten, sondern auch alle Besserhörer, deren iPods ständig unseren Song des Jahres spielen mussten. Oliver Ding |
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2. Japandroids Post-nothing |
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2. Mumford & Sons The cave |
Lange nicht mehr erlebt: Keifende Melodien ohne postpubertäre Skrupel. Scheppern und Verzerrungen von gleißender Schönheit. Fuzz-Gitarren, die so lichterloh brannten, dass man sofort selbst in Flammen stand. Der höhenlastige Krawall von "Post-nothing" war mehr als nur das Versprechen ewiger Jugend. Nicht nur für Mittdreißiger wie mich, sondern für alle lautstark lodernden Herzen. Taub werden können wir schließlich noch immer. Oliver Ding |
Ein Nachmittag im Spätsommer. Ich höre "The cave" und halte die Gleichberechtigung für eine Farce. Würde mir anlässlich dieses großartigen Stückes nämlich sehr gerne einen urigen Vollbart wachsen lassen. Klappt aber nicht. "So come out of your cave / Walking on your hands", singt Mumford, und ich versuche, auf den Händen zu laufen. Klappt auch nicht. Also bleibe ich einfach im Gras liegen. Mit einem der schönsten Songs des Jahres im Ohr. Ina Simone Mautz |
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3. The Antlers Hospice |
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3. Mumford & Sons Little lion man |
Emotionshypochonder, hört die Signale! Peter Silberman und Band nehmen sich mal eben das nicht ganz so leichte Konzept vor, Liebesgeschichte und Sterben in einem Handlungsstrang abzuhandeln und dabei Zorn, Depression und Zerbrechlichkeit miteinander zu verbinden. Gefühlswallungen ziehen in alle erfühlbaren Richtungen. Für Pathos und Metaphysik ist kein Platz, denn am Ende zählen nur das Du und das Ich. Björn Bischoff |
Vielleicht hält "Sigh no more" kunstvollere, intensivere Songs als diesen parat. Doch mit "Little lion man" gelang den Londonern ein launiger Popsong, der die Lücke zwischen traditionellem Hobo-Folk und modernem Indie-Pop nonchalant überbrückte. Und nebenbei das schönste Eingeständnis des Jahres lieferte: "I really fucked it up this time / Didn't I, my dear?" Ganz im Gegenteil: alles richtig gemacht! Kai Wehmeier |
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4. The Thermals Now we can see |
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4. Metric Help I'm alive |
So ist er, der Mensch. Hält sich für die Krone der Schöpfung, will mal eben über den großen Teich schwimmen und säuft schon nach ein paar Kilometern ab. Nicht so die Thermals mit hymnisch rüttelndem Indie-Punk und dem Wissen darum, dass wir alle mittelfristig abtreten werden. Natürlich nicht, ohne vorher noch einmal die Welt zu umarmen. Und dabei sollte bitte ganz dringend "Now we can see" laufen. Thomas Pilgrim |
Nachts um halb drei in der Indie-Disco: Roh wie Sushi schlingt die Tanzgesellschaft das Leben herunter, während sie sich in die Stimme von Emily Haines wickeln lässt. Dann der Pre-Chorus: Beat und Lebensmuskel pumpen das Adrenalin durch den Körper, jeder Herz- ein Hammerschlag. Acht Sekunden pure Energie, bevor die Gitarren die Anspannung herunterkühlen. Acht Sekunden reines Leben. Dennis Drögemüller |
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5. Patrick Watson And The Wooden Arms Wooden arms |
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5. Editors Papillon |
Warum Patrick Watson seinem dritten Album hölzerne Arme verpasste? Vielleicht ein Gruß an Captain Hook - nur ohne Haken. Dabei dürfte Captain Cook ihm noch wesentlich näher stehen: Mit Liedern, in denen auf dem Instrumentarium einer Großküche getrommelt wurde, Fahrradspeichen rotierten und Streicherarrangements wie Musik zu Filmen klangen, die kein Regisseur jemals hinkriegen würde, unternahm der Kanadier die Expedition des Jahres. Ina Simone Mautz |
Eine Fledermaus im Geschwindigkeitsrausch? Depeche Mode nach der Frischzellenkur? Nein - es waren Editors, die diesen Song über die Flucht aus überholten Lebensentwürfen in ein dynamisches Electro-Pop-Gewand steckten. Das dazugehörige Album blieb umstritten, zur Single und Tom Smiths herausgebelltem "It kicks like a sleep twitch" gab es jedoch keine zwei Meinungen. Und stattdessen nervöse Zuckungen auf der Tanzfläche. Thomas Pilgrim |
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6. The Xx The Xx |
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6. Marching Band For your love |
Hier ist alles klar. Schwarz-weißes Cover, einsam verhallende Gitarrentöne, ein langsam pulsierender Bass, ein Schlagzeugbeat – alles auf das Nötigste reduziert. Und doch ist in diesen Liedern alles so verwischt und undeutlich wie auf den Fotos im Innern, ist die Liebe, über die Oli Sim und Romy Croft dialogisieren, so fragil wie die Songs. Eine Platte, deren haltlose Sehnsucht einen schier erdrückt. Ein Sturz hinein ins Nichts, dem Himmel so nah wie der Hölle. Harald Jakobs |
Ein Song aus dem PEZ-Spender: zuckersüße Lebensfreude, komprimiert zu einem kompakten Block Feel-Good-Pop. Zwischen der Lagerfeuerromantik der Beach Boys und dem Sturm und Drang der Shins entfalten die beiden Schweden von Marching Band hier ein gewaltiges Frühlingserwachen, melancholisch in den Untertönen, herzerweichend, mitfühlend und enthusiastisch darüber. Musik wie ein schimmernder Tautropfen Liebe. Dennis Drögemüller |
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7. ...And You Will Know Us By The Trail Of Dead The century of self |
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7. Modest Mouse The whale song |
Die Gitarren rumpelten. Conrad Keely fabulierte über Fabelwesen und dirigierte Postcore-Kracher ins Musical-Nirvana. Ich? Zählte Fragezeichen. Doch als dann Jason Reece neben, unter und über mir durch die Halle sprang, war klar, dass der Blick nach schräg links Keely ebenso inspiriert hatte. Damit war auch die Bandgeschichte da, wo sie hingehört: im Gedankenknäuel dieser queren Köpfe, im Körperknäuel ihrer Fans. Selbstfindung der besonderen Art. Tobias Hinrichs |
Eine Kulisse wie das Grab der Titanic: Isaac Brock steigt in den Kreis der Hölle hinab und verwickelt den scheidenden Kollegen Johnny Marr für uns ein letztes Mal in einen großen Psychothriller. Die Gitarren manövrieren sich in die ewige Beklemmnis, das Schlagzeug stolpert ins Ungewisse. Am Ende steht eine tonnenschwere Explosion. Die große Erlösung ist das ersehnte Luftschnappen, bevor es wieder zurück in die Tiefe geht. Christian Preusser |
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8. Dinosaur Jr. Farm |
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8. Japandroids Young hearts spark fire |
US-amerikanischer Indie-Rock ist angeblich schon toter als tot. J. Mascis gleicht inzwischen einem Buddha mit langen Haaren, und Lou Barlows Wampe ist nicht minder stattlich. Dazu ist dieser Satz schon jetzt deutlich länger als Drummer Murphs Haarpracht. "Farm" jedoch trat neunmalklugen Abschreibungen und Nachrufen mit leidenschaftlicher Windschiefe und beherztem Noise zwischen die Beine. Ungeschminkt, ungeschönt. Rock'n'roll! Markus Wollmann |
Plötzlich ist es da, das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. "We used to dream / Now we worry about dying." Die Jugend von heute mit den Sorgen von morgen. Was ist der Ausweg aus dieser Erkenntnis? Direkt in die Vollen gehen und sich mit voller Wucht ins kulturelle Indie-Gedächtnis meißeln. Das ranzige Gitarrenbrett schlägt zu, das Schlagzeug stampft und ist sich selbst ein Knoten. Die erlösende Explosion bläst alle Bedenken um. Björn Bischoff |
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9. Noah And The Whale The first days of spring |
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9. Lily Allen Not fair |
Die Erwartung: ein Schwung leichter Liedchen zum Mitpfeifen wie "5 years time" und "2 atoms in a molecule" vom Vorgänger. Die Tatsache: getragene, tonnenschwere Päckchen, geschnürt von einem Trauernden, der unlängst von einer Frau verlassen wurde. Der Schock: war groß. Die Enttäuschung: dauerte Wochen. Die Liebe: kam später als erhofft, aber sie kam, wurde groß und blieb. Das Gleiche: wünsche ich Charlie Fink. Armin Linder |
Die Zeit war reif, der Schlüpfer feucht. Dennoch nutzte 2009 die Gelegenheit nicht, einen Song über Potenzprobleme zum ultimativen Sommerhit zu krönen. "You're suppossed to care / But you never make me scream." Dass andere Mädels mehr Glück hatten? "Not fair." Jetzt verstummt Lily gänzlich und legt eine Pause ein. Wir schunkeln derweil weiter über Scheunenfeste, und dieser Song bleibt unser Viagra. Stephan Müller |
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10. DM Stith Heavy ghost |
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10. The Pains Of Being Pure At Heart Young adult friction |
So viel mehr als Dein gewöhnlicher Singer/Songwriter: entrückt, distanziert, mysteriös, gespenstisch, beklemmend. Wie von Geisterhand wabert DM Stiths schweres Debüt durch die Luft, kaum greif- und beschreibbar. Es knarrt und jault in den Dielen, klopft an Türen und Fenstern, knistert und rumpelt in den Ecken. Ist da etwas hinter den Vorhängen? Ja, eine große Platte des dünnen Mannes mit dem fragilen Stimmchen. Kai Wehmeier |
Hat noch jemand dieses Jahr "Young adult friction" gehört und sich dabei entschlossen, sein Leben umzukrempeln? Im Sommer tanzten wir gemeinsam ganze Nächte durch. Im Herbst heilten gebrochene Herzen, und im Winter bauten wir schon wieder Luftschlösser. Ich war niemals allein, und zusammen konnten wir über die trübe Vergangenheit hinaus wachsen. Dieser Song und ich, das ist was für die Zukunft. Jennifer Depner |
Ältere Redaktionspolls:
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Auswertung: Armin Linder
Koordination: Oliver Ding
Texte: Die Redaktion von Plattentests.de