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Jahrespoll 2008 – Die Favoriten der Redaktion

Genau so, wie beinahe die ganze Welt Barack Obama gewählt hat (oder wenigstens hätte), räumen Portishead dieses Jahr im großen Stil in den Jahrespolls ab. Bei Euch, bei uns, überall. Dabei war "Third" das erschütternde Gegenteil von "Yes, we can". Als Gegenmittel braucht es da reichlich gute Laune: Obwohl es für ihr Album "Oracular spectacular" nicht reichte, regieren MGMT unsere Song-Top-Ten mit zwei ihrer herrlich spinnerten Popsongs. Das hier sind also unsere Favoriten 2008. Ob wir cool sind, müsst Ihr uns im Forum sagen.

Album des Jahres

Song des Jahres

Cover 1. Portishead
Third
Cover 1. MGMT
Kids

Erwartungshaltungen? "Third" zersetzte sie in einem Säurebad aus taumelnden Grooves, malträtierten Harmonien und kaltem Grinsen. So klangen die schönsten Kopfschmerzen des Jahres. Dreisterweise hatten Portishead mit ihrem Drittwerk so lange gewartet, bis das Maximum an Verstörung möglich wurde. Die mulmigsten Träume, das betörenste Säuseln, die offensten Münder - auch wenn es für "Third" keine Dr.-Pepper-Dose gab, machten die drei Briten alles richtig.

Oliver Ding


Es ist ein Privileg der Jugend, so lange in der Disko herumzuspringen, bis Erziehungsberechtigte und andere Minderbemittelte S.O.S. funken. Oder wahlweise selbst zu diesem irrsinnigen Stampfer mit den lysergsäurehaltigen Keyboards bis zum Morgengrauen Ringelpiez tanzen. Mit Anfassen natürlich. Denn nur so kann nach neun Monaten das entstehen, was unserem Song des Jahres seinen Namen gibt. So sind sie, die "Kids" von heute: "No time to think of consequences."

Thomas Pilgrim


Cover 2. Fleet Foxes
Fleet Foxes
Cover 2. Portishead
Machine gun

Die Kaffeeklatsch-Runde des Plattentests.de-Forums diskutierte 2008 gerne über das aus der Zeit gefallene Debüt von Fleet Foxes. Wie sollte man diese Musik beschreiben? Als pures Glücksgefühl. Als alles, was gestern besser heute stattgefunden hätte. Als Gänsehaut im Frühlingswind. Als Regen an einem Sommertag. Als herzhaftes Lachen. Als erster Kuss. Als Freudentränen. Als Musik, die den perfekten Soundtrack für jeden Tag stellt, gestern, heute und gerne auch morgen.

Jennifer Depner


Legt die Maschinenpistolen nieder! Das sind keine Dummies. Das sind Portishead mit "Machine gun", dem rettenden Gegenentwurf zu Aromatherapien, Kleingartenexhibitionismen und Schützenfesten. Der stotternde Beat zerfasert alles in den noch so tiefsten Tiefen der irdischen Existenz und erkämpft sich trotzdem das eigene Dasein. Das Leben nämlich fängt genau hier an, wo es bei anderen längst aufgehört hat: am Puls der Zeitlosigkeit.

Carsten Rehbein


Cover 3. The Gaslight Anthem
The '59 sound
Cover 3. MGMT
Time to pretend

12. Juni: Kroatien hat uns das EM-Spiel verhagelt, ein Wolkenbruch das Public Viewing. Durch strömenden Regen geht's weiter zum Club. Die gute Nachricht: Zox spielen zuerst, die vermeintliche Vorband The Gaslight Anthem (nie gehört!) danach. Klasse. Vielleicht noch zwei Songs von den Unbekannten mitnehmen, dann heim, trockenrubbeln. Von wegen. Es wurden alle Songs und eine Offenbarung, die sich mit dem Album fortsetzte. Nasse Füße, feuchte Augen.

Armin Linder


Es ist schon verwunderlich, mit welch abstruser Mischung der wohl mächtigste Ohrwurm des Jahres zusammengeklöppelt wurde. "Time to pretend" ist ein dreckiger Mischling aus den Bee Gees im tiefsten Pilzrausch, gefühltem 80er-Wumpa-Wumpa, einer eklig quietschigen Melodielinie und ganz viel Hippietanz nackter, in Wagenladungen Bodypaint getauchter Körper. Dazu noch ein unglaublich beknackter Text über den Lauf des Lebens und – schwupps – steht der große Popsong.

Kai Wehmeier


Cover 4. Get Well Soon
Rest now, weary head! You will Get Well Soon
Cover 4. Peter Fox
Alles neu

Somnambul und hellwach, präsent und entrückt: In opulent schillernden Kompositionen zelebrierte Konstantin Gropper die Schönheit des steinigen Weges und restaurierte in liebevoller Detailarbeit den Glauben an die Kraft der Umarmung. Mit Pauken und Trompeten, exzellenter Dramaturgie und der pastoralen Stimme eines Schicksalsbezwingers wurde das Debüt von Get Well Soon zur starken Schulter des Jahres.

Ina Simone Mautz


Der Lackaffe aus dem Großstadtdschungel: Breitmäulig und -ärschig schiebt sich Peter Fox durch seine persönliche Neuerfindung. Die Tribal-Beats donnern und knacken ganz hervorragend, die Reime verrennen sich im unheiligen Verfolgungswahn. Quasi posthum der beste Deutschrap-Track ever? Wer das Babelsberger Filmorchester zu so einem Geflirre anstiften kann, muss den Dreck jedenfalls faustdick hinter den Ohren haben.

Daniel Gerhardt


Cover 5. The Notwist
The devil, you + me
Cover 5. Elbow
Grounds for divorce

Das wunderbare "Neon golden" zu übertreffen, war sowieso unmöglich. Also versuchten es die Weilheimer erst gar nicht. Dafür holten sie ein paar zerbrechliche Ideen aus ihren Träumen und schoben sie mit der Maus hin und her, bis die Melodien seufzten und die Laptops freundlich klapperten. Zum Trio geschrumpft ließen uns The Notwist die Wartezeit lange noch einmal durchleben. Dann blühten zurückhaltende Hymnen wie "Good lies" und "Where in this world" plötzlich auf, und der Frühling trug Hornbrille.

Oliver Ding


Der Typ da hinten in der Ecke am Ende der Theke? Der im Anzug und mit Seidenschal? Das ist Guy. Sitzt jeden Abend alleine hier, kippt Lager und glaubt, er wäre ein Feingeist. Ein Philosoph. Erzählt ständig, er habe eine Band. Und jetzt auch einen richtigen Hit geschrieben. Einen Song über diese Bar, übers Trinken. Irgendwas Düsteres mit scheppernden Gläsern, knurriger Gitarre und knallharten Drums. Sogar zum Mitgrölen. Die anderen aus der Band habe ich hier noch nie gesehen. Ein Spinner, aber ein sympathischer.

Kai Wehmeier


Cover 6. Deerhunter
Microcastle / Weird era cont.
Cover 6. I Was A Cub Scout
Pink squares

Wenn einem die Leute alles zutrauen, muss man eben alles und noch ein bisschen mehr machen. Deerhunter kamen deshalb mit einem unverfrorenen, unverblümten Popalbum an - einer Platte, die im Erstkontakt unspektakulär blieb, dann aber mit detaillierten, zugänglichen, nachhaltigen und prima paranoiden Liedern jedes vorgegebene Ziel übertraf. Das war kein Indierock mehr, sondern alles halt und sogar noch ein bisschen mehr.

Daniel Gerhardt


Mit orchestralen Licks, verzweifelt voranstampfendem Beat und sich selbst Mut zusprechender Leadgitarre wächst ein intimes Lied über die Unwägbarkeit der Liebe. Streckt alle Waffen, zieht sich aus bis auf die Knochen und hat doch die größten Eier, die man sich vorstellen kann. Bitterkeit und Hoffnung, Verlust und Erfüllung auf engstem Raum. Ein kleines Vermächtnis - nicht nur, weil sich die Band inzwischen aufgelöst hat.

Thomas Pilgrim


Cover 7. Bon Iver
For Emma, forever ago
Cover 7. Nneka
Heartbeat

So schön kann es klingen, wenn man der Natur ausgeliefert ist: Weit draußen in der Wildnis überwand Justin Vernon die Trauer und die Wut über den Verlust des Liebgewonnenen. Auf "For Emma, forever ago" leuchtete er mit zerbrechlicher Stimme den eigenen Schmerz bis in den hintersten Winkel aus und ließ nicht nur mich erschüttert und bezaubert zugleich zurück. Kein anderes Album besaß so viel leidvolle Schönheit. Ausgerechnet ein Einsiedler schenkte uns das Liebeskummer-Album 2008.

Harald Jakobs


Um das afrikanische Dilemma nachfühlen zu können, braucht es Songs wie "Heartbeat": Nervöser Bass und sanftes Klavier tänzeln umeinander, nebenher schlurft Reggae. Das Herz schlägt schneller, plötzlich bekommt der Groove einen Blutrausch. Rhythmik, Hektik, Panik - wie eine Razzia im Flüchtlingslager. Nnekas vibrierende Anklage verknotet die Beine und berührt die Seele. Kaum zu glauben, dass diese famose Drittwelt-Hymne auf einem deutschen Label erschien. Boom-boom.

Oliver Ding


Cover 8. Tomte
Heureka
Cover 8. The Gaslight Anthem
Blue jeans and white T-shirts

Ist es cool, glücklich zu sein? Thees Uhlmann sagte nicht ja, sondern rief es so inbrünstig, dass hinter all diesen Fenstern Menschen erschrocken zusammenzuckten. Lebenstrunken warf sich "Heureka" in eine Welt, mit der sich Tomte plötzlich einig waren. So schön kann seelisches Gleichgewicht sein: Optimistischer und selbstsicherer fielen ihre Punchlines nie aus. Ab jetzt machen Tomte Musik für alle.

Dennis Drögemüller


Das beste Rock-Album 2008 kann es sich sogar leisten, den kraftvollsten neuen Song der Band einfach der Vorab-EP zu überlassen. "Blue jeans & white T-shirts" ist Lebenselixier für Twens, die das Ende ihrer Jugend verzögern. Mit bescheidenen Klamotten, aber wilden Herzen. "We're never going home until the sun says we're finished." Nutze den Tag. Nutze die Nacht. Jeden Augenblick.

Armin Linder


Cover 9. Mother Tongue
Follow the trail
Cover 9. Wild Beasts
The devil's crayon

Mother Tongue, die Band mit der eindrucksvollen Narbenkarriere. Endlich bluteten sie wieder. Was für ein pulsierendes, unruhiges, lebenshungriges Monster von Album "Follow the trail" war. Eines, das gefüttert werden musste. Mit Blut, Schweiß und Tränen, der entfesselten Energie des Funk und den dunklen Abgründen des Soul. Und mit jeder Menge echten, puren Lebens jenseits von Rockstarposen. Danach fühlte man sich lebendig. "Always forever."

Dennis Drögemüller


Das Duett des Jahres: Für "The devil's crayon" rauften sich Hayden Thorpe und Tom Fleming gegenseitig die Haare und zerwuschelten den Song zu einer wahren Sturmfrisur. Zwischen Spandau-Ballet-Pop, Falsett-Eierkneifer und erzürntem Löwenkater gab's ein Tickern im Gitarrentakt und ein kerniges Bass-Wummern zum Refrain - zu schizophren für den großen Wurf und doch ein Kleinod, das alle Ketten sprengte.

Tobias Hinrichs


Cover 10. Vampire Weekend
Vampire Weekend
Cover 10. Frida Hyvönen
Dirty dancing

Dieses Jahr gab es ebenso viele Trends wie Bankenpleiten. Eine Band besann sich nicht nur auf Strokes und Beach Boys, sondern auch auf Paul Simons "Graceland". Wir tanzten zu "A-Punk" Pogo in der Duschtasse, hüpften bei "Cape Cod Kwassa Kwassa" in den Pool und gönnten uns zu "Walcott" Bewusstseinserweiterndes. Obwohl bei diesem Album gar keine Substanzen notwendig waren: Vampire Weekend zauberten uns auch so im Handumdrehen ein seliges Grinsen aufs Gesicht.

Thomas Pilgrim

Niemand hat dieses Jahr die Choreographie einer Jugendliebe hinreißender nachgetanzt als Frida Hyvönen. Zu wunderbar nostalgischem Piano erinnert sich die Schwedin in "Dirty dancing" an den Jungen, der einst nicht nur ihre Füße, sondern auch ihr Herz zum Tanzen brachte - bis plötzlich die Musik verstummte. Jahre später trifft sie ihn filmreif wieder, aber diese Geschichte muss sie nun wirklich selbst erzählen. Eines sei jedoch verraten: She never felt this way before.

Ina Simone Mautz


ZUM JAHRESPOLL 2008


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Auswertung: Armin Linder
Koordination: Oliver Ding
Texte: Die Redaktion von Plattentests.de