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Jahrespoll 2004 - Die Rangliste der Redaktion

Wir können auch anders. Ja, so großspurig dürfen wir, die Redaktion von Plattentests.de, tönen, wenn es darum geht, unsere Lieblinge des vergangenen Jahres herauszuposaunen. Denn das, was wir im Jahr 2004 vergötterten, ist durchaus an entscheidenden Stellen spürbar anders als Eure Favoriten. Recht haben wir natürlich alle. Über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten. Sondern höchstens ganz demokratisch abstimmen.

Bei Euch starteten dabei die großartigen Franz Ferdinand bei Alben und Singles durch, während bei uns die nicht minder famosen Modest Mouse - als unsere einzige 10/10 des Jahres nicht allzu unerwartet - in beiden Kategorien ganz vorne liegen. Zum ersten Mal küren wir mit "Bury me with it" sogar einen Song zum Spitzenreiter, der weder Single war noch ein Video hatte. Applaus für Modest Mouse!

Dieses Mal gehen also unsere beiden Spitzenplätze in die Vereinigten Staaten. Ein Grund zur Freude trotz Bushs Wiederwahl. Ebenso erfreulich, daß sich mit Kante einmal mehr eine einheimische Band jenseits von untoten Radioquoten-Diskussionen in beide Top Tens gemogelt hat. Und daß mit Altmeister Morrissey ein weiterer Wiederauferstandener gleich drei Mal vertreten ist. Und ... Ach, lest doch selbst: Dies sind unsere Favoriten des Jahres 2004.

ALBUM DES JAHRES 2004 Abstandhalter SONG DES JAHRES 2004

1. Modest Mouse
Good news for people who love bad news

1. Modest Mouse
Bury me with it

Der letzte April, unweit der englischen Kanalküste. "Modest Fucking Mouse", brülle ich, entgegen sämtlicher Vernunft, aus der Menge. Ein Schlachtruf. Isaac Brock, da oben, betrunken. beschimpft dagegen das Publikum wegen Nichtigkeiten. Gute Platten verunmöglichen die Distanz, brechen sich selbst, haben Zeilen, die wir auch erwachsen noch in unsere Poesiealben hineinpausen. Diese hier ist die beste.

Was sollen bloß die Leute denken? Es gibt wenige Momente, in denen man die Beherrschung verlieren will. Das erste Hören von "Bury me with it" war so einer. Beinahe wäre die U-Bahn zur Tanzfläche geworden. Die Selbstkontrolle hat gesiegt, ganz knapp, über die Aufwieglerei von Modest Mouse. Mehr Stärke bewies lange kein Song mehr, und der Kampf um die Oberhand ist noch nicht zuende. "And God I love that rock and roll!"

(Adrian Schulthess) (Armin Linder)
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2. Franz Ferdinand
Franz Ferdinand

2. Kante
Zombi

Seitenscheitel, Hemdkragen und Discokugel? Wie uncool! Doch die Zappelbuden duschten sich mit Trockeneis, gefrostet im Fahrtwind des rasanten Aufstiegs der schicken Schotten. Man soff Schampus mit Lachsfisch, fummelte in der Matinee und fackelte hinterher die ganze Stadt ab. Diese elf Postpunk-Stilblüten waren im Jahr 2004 der Satz des Pythagoras der Tanzfläche: Franz plus Ferdinand gleich Party zum Quadrat.

Die Normalen in der Überzahl, wir ein eingeschworenes Grüppchen. Im erlesenen Zirkel sieht man Dinge, die den anderen verborgen bleiben. Wunschdenken? Sind Menschen nicht alle gleich? Egal, viereinhalb Minuten lang. Kein Akt des Chauvinismus, sondern eine romantische Abgrenzung. Sie hält kurz, die schöne Illusion, im Gewöhnlichen das Besondere leben zu können. Aber sie hält, "die Welt mit anderen Augen."

(Oliver Ding) (Armin Linder)
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3. Wilco
A ghost is born

3. Morrissey
Irish blood, English heart

Ein Album mit offenstehender Seele mußte "A ghost is born" werden. Ein einziges Großreinemachen im verzwickten Innenleben des Jeff Tweedy. Chronische Kopfschmerzen hätten ihn beinahe um den Verstand gebracht, aber weil er seinen Dämonen auf Augenhöhe begegnete, konnten Wilco letztlich nicht nur die schwerste Platte ihres Lebens meistern. Sondern auch den verletzlichsten, sensibelsten und fragilsten Kraftakt des Jahres vollbringen.

Kein lebender Mensch hat mehr Stil als Stephen Morrissey. Selbst wenn er Gift und Galle spuckt, besitzt er mehr Charme als alle gelackten Kofferträger zusammen. Doch keine Lügen kommen über diese Lippen: Nur die aufrichtig verzerrte Wahrheit über ein Land, das seinen letzten Propheten vergraulte. Diesen Furor hätte man dem Graumelierten nicht mehr zugetraut. Die famose Erklärung: "There is no-one on Earth I'm afraid of."

(Daniel Gerhardt) (Oliver Ding)
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4. Jimmy Eat World
Futures

4. Franz Ferdinand
Take me out

Natürlich stapelt der Albumtitel zu hoch. Das Album ist nicht Zukunft, sondern Vergangenheit. Nicht revolutionär, sondern repetetiv. Alter Wein in neuen Schläuchen. Und doch bereitet "Futures" eine helle Wohltat, weil keine Band perfektere Songs schreibt. 90-60-90 auf Tonträger, elf Songs wie Topmodels. Einerseits ist man froh, daß das nicht alles ist, es noch Makel auf dieser Welt gibt. Und doch kann man sich nie satt hören.

Einen konsensfähigeren Song hat das Jahr nicht gehabt: Franz Ferdinand stylten sich mit "Take me out" in ungezählte Herzen und Hitparaden, regierten Clubs, brannten Konzerthallen ab und schlugen nebenbei auch noch einen der kecksten Haken der Rock-Geschichte. Wer sich zu diesem Stück in 2004 nicht mehrmals die Haxen gebrochen hat, kann das Jahr eigentlich nur in einem Erdloch verbracht haben. Sorry, Saddam.

(Armin Linder) (Daniel Gerhardt)
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5. Morrissey
You are the quarry

5. Keane
Somewhere only we know

"America, your head's too big / Because America, your belly's too big." Wenn die ersten Zeilen einer Platte, auf die man sieben Jahre warten mußte, schon so in die Vollen gehen, daß man ihrem Schöpfer sofort eine Blankounterschrift anvertrauen würde, dann ist klar: Das ist was Großes. Elegant-angespitzte, aber nie überspitzte Eloquenz. Und die Musik flaniert im Maßanzug. Man würde Morrissey auch Vollmacht über das eigene Gefühlskonto erteilen.

Ausgerechnet mit einem Lied, in dem sie sich über ihren fehlenden Erfolg beklagen, schafften Keane den sofortigen Hit. Einmal mehr eine Band, die beweist, daß man keine Gitarren braucht, um große Songs zu vollbringen. "Somewhere only we know" eignet sich gleichermaßen zum Umherhüpfen wie zum Kuscheln. Und wenn Tom Chaplin fragt, ob man gerade mal eine Minute Zeit habe, möchte man ihm antworten: "Für dich und dieses Lied sogar vier!"

(Ina Simone Mautz) (Lukas Heinser)
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6. Kante
Zombi

6. Morrissey
First of the gang to die

Ein zärtliches Monster voller fragiler Momente. Zerbrechliche Melodien an der Pulsader der Zeit. Es geht um Tod, um das Verlangen nach dem Nichts und nach Neuanfang. Unbeschriebene Blätter, verschwiegene Gräber und Nacht an allen Tagen. Furcht wurde nie trauriger in deutschem Pop vertont. Doch wenn sich in "Ich kann die Hand vor meinen Augen nicht mehr sehen" die Instrumente zu einem Inferno zusammenreißen, ist dies ein großes Ja zum Leben.

Immer noch keine Ahnung, wer dieser Hector ist. Troja, Sherwood Forest, Chicago oder doch L.A.? Nach tausend Wiederholungen auf dem MP3-Player rätselt man über diese martialischen Lyrics. Doch Personalfragen sind egal. Für die grandiosen, phänomenalen, atemberaubenden Minuten von "First of the gang to die" kann man getrost auf Megabytes herkömmlicher Musik verzichten. Ach was, auf Gigabytes!

(Sebastian Peters) (Steffen Krautzig)
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7. The Killers
Hot fuss

7. Modest Mouse
Float on

Pukkelpop-Festival, die Größten auf der kleinsten von sieben Bühnen. Die Killers wollten weg hier, gehörten weg hier und zementierten ihre Ansprüche mit großem Entertainment, schwungvoll und mitreißend, auf einem soliden Fundament aus Talent und Chuzpe. Ein halbes Jahr später: Die Killers haben die erste Stufe erfolgreich gezündet. Die Lunte zur zweiten glüht. Die Stadien warten. To be continued.

April 2004: Telefonat mit einer Freundin. Sie sagt, daß ich mir unbedingt diesen "unglaublichen, wahnsinnigen, unfaßbar fantastischen" Song anhören muß. Ich versichere, am nächsten Tag in den Plattenladen zu gehen. Doch schon eine Sekunde später schallt es durch den Hörer: "Alright, don't worry even if things end up a bit too heavy. We'll all float on." Und ich denke: Was für ein unglaublicher, wahnsinniger, unfaßbar fantastischer Song.

(Armin Linder) (Ina Simone Mautz)
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8. Interpol
Antics

8. Jimmy Eat World
Kill

Nach einem perfekten Debüt mit einer Platte wie "Antics" weiterzumachen - dazu gehört schon was. Interpol waren tatsächlich frech genug, das gleiche Album nochmal zu machen, und mußten sich dafür noch nicht mal wiederholen. Statt der Aufgabe eines ebenbürtigen Nachfolgers auszuweichen, nahmen sie die Herausforderung an und scheiterten letztlich auf grandiose Art und Weise. So schön kann Verlieren sein.

Ein Lied ohne dieses schlichte Strophe-Refrain-Schema habe man schreiben wollen, erklärten Jimmy Eat World. Daß "Kill" trotzdem nicht nur direkt ins Ohr, sondern auch ins Herz geht, liegt sicher nicht zuletzt an Jim Adkins, der die verzweifelten Verse so anrührend vorträgt, daß man ihn direkt in den Arm nehmen und trösten möchte. Und bei dieser Gelegenheit könnte man sich auch gleich noch angemessen überschwenglich für dieses Lied bedanken.

(Daniel Gerhardt) (Lukas Heinser)
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9. The Libertines
The Libertines

9. Coheed And Cambria
A favor house Atlantic

Hand in Hand durch die Drogenhölle: Carl Barat und Pete Doherty, die besten Freunde und größten Feinde im Musikgeschäft, rissen sich noch einmal am Riemen. Sieben Tage brauchten sie für dieses Album und stolperten mit unnachahmlicher Unkonzentriertheit alles durch, was Rock'n'Roll sein sollte. Liebe, Haß, Exzess und Verlust? Diese Männer können ein Lied davon singen.

Ein Popsong, der täuschend echt wirkt und natürlich lange keiner ist. Die trügerischste und vielleicht deswegen brillanteste unter den Finten von Coheed And Cambria. "Bye bye beautiful, don't bother to write" gaukelt ein klein wenig Realität vor, zwischen all der Fiktion. Ein bißchen Frieden? An der nächsten Ecke wartet bestimmt schon "Al the killer", mit der Pistole im Anschlag.

(Daniel Gerhardt) (Armin Linder)
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10. Die Fantastischen Vier
Viel

10. Wilco
At least that's what you said

Nach jahrelanger Auszeit kehrten die Gottväter deutscher Sprechgesangsmusik zurück. Und verwirbelten soviel Staub, daß sogar Intimfeindin Sabrina Setlur mitkeifte. Während andere auf Ghetto machten, markierten die Vier ihr Revier zwischen herrlich plumpen Späßen, überlegter Introspektion und reifer Selbstironie. Ein souveränes Alterswerk, das sich hinter keiner Maske verstecken muß. Auch wenn ich mich mehr über das Comeback freute als über das Album.

Jeff Tweedy ringt mit seinen betäubten Gefühlen, um die nackte Existenz zu retten. Er pflückt mit vorsichtiger Pinzette die Blätter aller verfügbarer Blüten, um diese unglücklichste aller Lieben doch noch zu verstehen. Er zerfließt vor Sehnsucht. Und brennt dann alles mit einem Flammenwerfer von Gitarrensolo nieder. Einmal mehr operierten Wilco am offenen Herzen. Und verpaßten mir damit eine Infusion aus Blut, Schweiß und allen Leidenschaften dieser Welt.

(Oliver Ding) (Oliver Ding)


ZUM JAHRESPOLL 2004


Ältere Redaktionspolls:
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Auswertung: Armin Linder, Koordination: Oliver Ding
Texte: Die Redaktion von Plattentests Online