Lacrimosa - Revolution

Hall Of Sermon / Sony
VÖ: 07.09.2012
Unsere Bewertung: 5/10
5/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Mal was Neues

Tilo Wolff ist ein durchaus einzigartiger Künstler. Ja, wirklich. Denn während üblicherweise genremischende Musiker entweder bei der einen oder der anderen Fraktion verhasst sind, hat Wolff es mit Lacrimosa so weit gebracht, dass es sowohl unter Metal- als auch Gothic-Fans außer Huldigung und Hass keine Zwischenstufen gibt. Den Metallern zu schwülstig, den Schwarzkitteln zu metallisch - sich vom legendären Ecki Stieg, Ikone des Düster-Journalismus und Macher der leider längst verblichenen "Grenzwellen", in Grund und Boden dissen zu lassen, muss man auch erst einmal schaffen.

Dass Wolff dies am Allerwertesten vorbeigeht, hat er allerdings bereits 1997 mit dem Song "Siehst Du mich im Licht" dokumentiert. Die Kritiker sind also bereits gescholten, also bedenkenlos Feuer frei? Moment, nicht so voreillig. Denn Wolff haut mit "Irgendein Arsch ist immer unterwegs" mal eben einen heißen Favoriten auf den Songtitel des Jahres raus. Natürlich wird der Protagonist pathetischer Pennäler-Poesie nicht plötzlich vulgär, keine Sorge, aber amüsant ist's schon, wie sich der Wahl-Schweizer scheinbar massiv im Ton vergreift.

Durchaus überraschend hingegen ist, dass besagter Opener alles andere als für den Pöter ist - vielmehr ein vollendet gestreckter Mittelfinger in Richtung aller Besserwisser, Klugscheißer und sonstiger Querulanten, solide riffend zu angenehm bodenständigen Texten. Und das ungläubige Kopfschütteln geht weiter: Während das von Partnerin Anne Nurmi respektabel gesungene "If the world stood still a day" einen sauberen Treffer in die Schnittmenge zwischen Lacuna Coil und Nightwish setzt, ist "Verloren" dank donnernder Riffs von Gast-Gitarrist Mille Petrozza (Kreator) zumindest solide.

Natürlich bedient Wolff auch nach 20 Jahren Karriere noch zielsicher die "Ich hab's ja immer gewusst"-Fraktion. Nicht, dass er jemals singen konnte, aber mehr denn je klingt er eher nach einer rachitischen Nebelkrähe denn nach einem kraftvollen Vokalisten. Und selbstredend befindet er sich beispielsweise auf "Rote Sinfonie" wieder auf der verzweifelten Suche nach dem Versmaß, während sein Feind, der Jambus, Reißaus nimmt und über Stock und Stein davonhumpelt. Aber um fair zu sein, sind nur "Refugium" und "Weil Du Hilfe brauchst" so richtig unnötig - der abschließende Titeltrack beispielsweise ist nicht mehr und nicht weniger als ein fetter Goth-Metal-Song und reißt nicht nur musikalisch manches nieder, sondern zeigt zudem Anne Nurmi als zickigen Vamp von einer völlig neuen Seite.

Klar ist, dass Wolff immer umstritten bleiben wird - vermutlich ist auch genau das sein Ziel. Aber während noch Wetten angenommen werden, wer von den hoffnungslosen Pflegefällen des Genres wie Witt oder Unheilig mit der ersten 0/10 auf dieser Seite bedacht wird, gelingt ihm mit "Revolution" eine echte Überraschung. Oft nicht gut, aber oft eben auch erfreulich pathosarm und trotzdem weit entfernt von Testosteron-geschwängertem NDH-Geballer, was nicht allzu fern gewesen wäre. Man muss Wolff nicht mögen, dafür hat er schlicht zu viel Grütze produziert, auf die er auch hier nicht komplett verzichtet. Aber für diese Platte gebührt ihm zumindest ein bisschen Respekt.

(Markus Bellmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • If the world stood still a day
  • Feuerzug (Part II)
  • Revolution

Tracklist

  1. Irgendein Arsch ist immer unterwegs
  2. If the world stood still a day
  3. Verloren
  4. This is the night
  5. Interlude - Feuerzug (Part I)
  6. Feuerzug (Part II)
  7. Refugium
  8. Weil Du Hilfe brauchst
  9. Rote Sinfonie
  10. Revolution
Gesamtspielzeit: 54:20 min

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